Todesdämmerung
Zittern über, das ihren ganzen Körper erfaßte. Charlie erkannte jetzt, daß sie sich ihre Fassung nur mit beträchtlicher Mühe bewahrt hatte.
»Ruhig«, sagte er, »ganz ruhig. Alles wird gut werden. Wir werden nicht zulassen, daß Joey etwas zustößt.«
Sie war bleich. Ihre Stimme zitterte beim Reden: »Er ist so süß. Ein so süßer kleiner Junge. Er ist mein ein und alles... der Mittelpunkt meines Lebens. Wenn ihm etwas zustoßen würde...«
»Es wird ihm nichts zustoßen. Das garantiere ich Ihnen.«
Sie fing zu weinen an. Sie schluchzte nicht und jammerte auch nicht, wurde auch nicht hysterisch. Sie atmete nur tief, ihre Augen waren feucht, und dann rannen ihr Tränen über die Wangen.
Charlie schob seinen Sessel zurück, stand auf und wollte sie trösten, kam sich dabei zugleich ungeschickt und unzu länglich vor. »Ich glaube, Sie sollten einen Schluck trinken«, meinte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Das würde Ihnen helfen«, sagte er.
»Ich trinke nicht viel«, sagte sie mit bebender Stimme, und die Tränen flössen noch reichlicher.
»Nur einen Schluck.«
»Dazu ist es zu früh«, sagte sie.
»Es ist schon nach halb zwölf. Beinahe Mittag. Außerdem sollten Sie das als Medizin sehen.«
Er ging an die Bar, die bei einem der großen Fenster in der Ecke stand. Er öffnete die unteren Türen, holte eine Flasche und ein Glas heraus, stellte sie beide auf die Marmorplatte und goß ihr zwei Fingerbreit Scotch ein.
Als er die Verschlußkappe wieder auf die Flasche schraubte, blickte er zufällig zum Fenster hinaus — und erstarrte. Ein weißer Ford-Lieferwagen, sauber und blitzblank, ohne irgendeine Aufschrift, stand auf der anderen Straßenseite. Charlie konnte über den obersten Wedeln einer riesigen Dattelpalme, die fast bis in den fünften Stock heraufreichte, einen dunkelgekleideten Mann an dem Lieferwagen lehnen sehen.
Zufall.
Der Mann schien zu essen. Einfach ein Arbeiter, der in einer ruhigen Seitenstraße Pause machte und einen Bissen zu sich nahm. Das ist alles. Ganz sicher hatte das nichts zu bedeuten.
Zufall.
Oder vielleicht auch nicht. Der Mann dort unten schien das Gebäude zu beobachten. Es sah so aus, als nähme er einen Bissen zu sich und beobachtete gleichzeitig das Gebäude. Charlie war im Laufe der Jahre Dutzende Male damit beschäftigt gewesen, andere zu beschatten, und wußte, wie das vor sich ging. Und das hier sah so aus, obwohl es nicht ganz pro fessionell war, ein wenig auffällig und amateurhaft.
Hinter ihm sagte Christine: »Ist etwas?«
Ihre Aufmerksamkeit überraschte ihn; er staunte, wie gut sie auf ihn abgestimmt war, ganz besonders, wo sie doch immer noch hochgradig erregt war und weinte.
»Ich hoffe, Sie mögen Scotch«, sagte er.
Er wandte sich vom Fenster ab und brachte ihr das Glas.
Sie nahm es ohne weitere Einwände an. Sie hielt das Glas mit beiden Händen, die immer noch zitterten. Sie nippte vorsichtig an dem Whisky.
»Trinken Sie aus«, sagte Charlie. »Zwei Schluck. Das wird Ihnen guttun.«
Sie tat, wie er ihr geheißen hatte, und er konnte erkennen, daß sie wirklich nicht viel trank, weil sie das Gesicht verzog, obwohl Chivas so ziemlich das Samtigste war, was je auf Flaschen gezogen wurde.
Er nahm ihr das leere Glas weg, trug es zur Bar zurück, spülte es in dem kleinen Ausguß aus und stellte es ab.
Er sah wieder zum Fenster hinaus.
Der weiße Lieferwagen stand immer noch da.
Und ebenso der Mann in den dunklen Hosen und dem dunklen Hemd, der mit einstudierter Beiläufigkeit sein Sandwich aß.
Charlie ging zu Christine zurück und sagte: »Fühlen Sie sich besser?«
Ihr Gesicht hatte jetzt etwas Farbe bekommen. Sie nickte. »Es tut mir wirklich leid, daß ich so in Stücke gegangen bin.«
Er setzte sich auf die Schreibtischkante, so daß ein Fuß auf dem Boden ruhte, und lächelte ihr zu. »Da ist gar nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssen. Die meisten Leute würden, wenn sie etwas so Schreckliches wie Sie erlebt haben, zusammenhanglos plappernd durch die Tür geschossen kommen und damit nicht aufhören. Sie halten sich sehr gut.«
»Mir ist aber gar nicht so zumute, als würde ich mich gut halten.« Sie holte ein Taschentuch heraus, schneuzte sich. »Aber wahrscheinlich haben Sie recht. Eine verrückte alte Frau ist schließlich nicht das Ende der Welt.«
»Genau.«
»So schwierig kann es doch nicht sein, mit einer verrückten alten Lady klarzukommen.«
»So gefallen Sie mir«, sagte er.
Aber bei sich dachte er: Eine
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