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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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berechtigtes Interesse daran besteht, zum Beispiel auf der Jagd, beim Sport oder im Beruf. Ausdrücklich gilt die Selbstverteidigung nicht als berechtigtes Interesse.«
    Unruhe im Publikum. Murren.
    Ingo musterte seinen Gast nachdenklich. »Es könnte einem so vorkommen, als wolle der Staat seine Bürger nach Kräften daran hindern, sich und andere selber verteidigen zu können.«
    »Da widerspreche ich Ihnen nicht«, erwiderte der Richter. »Tatsächlich kann ich niemandem dazu raten, anderen in einer Situation akuter Gewalt tätlich beizustehen. Selbst wenn das ohne körperliche Konsequenzen bleibt, bleibt es so gut wie nie ohne juristische.«
    »Solche Fälle hatten wir diese Woche schon einige«, sagte Ingo. »Aber was heißt das? Soll man wegsehen?«
    »Nein, das wiederum wäre unterlassene Hilfeleistung. Sie müssen in so einem Fall die Polizei benachrichtigen. Wobei es da auch schon vorgekommen ist, dass jemand eine, sagen wir mal, Schlägerei unter Freunden für eine Gefahrensituation gehalten hat und nachher, als die Beteiligten beim Eintreffen der Beamten Stein und Bein schworen, dass es gar keine Auseinandersetzung gegeben hätte, wegen Missbrauchs von Notrufen nach Paragraf 145 Strafgesetzbuch belangt wurde.«
    »Am besten, man bleibt daheim und lässt die Läden herunter?«
    »Man kann auch zu Hause überfallen werden. Das ändert die Sachlage nicht wesentlich. Der Eindringling wird, da er sich ohnehin nicht an Gesetze hält, wahrscheinlich eine Waffe haben, man selber dagegen nicht«, sagte der Richter. »Und selbst wenn man eine hätte, ist kaum eine Situation vorstellbar, in der man sie einsetzen könnte, ohne sich strafbar zu machen.«
    »Anderes Thema: Warum werden gegen jugendliche Gewalttäter so oft so milde Urteile gefällt?«, fragte Ingo. »Wir hören immer wieder von Fällen schwerer Körperverletzung mit teilweise lebenslangen Folgen für die Opfer, in denen die Täter mit geringen Bewährungsstrafen davonkommen. Wie ist das zu erklären?«
    Der Richter schob den Unterkiefer vor. Hinrich Kastell war Ingo kein unbekannter Name, wenn er ihm auch heute zum ersten Mal begegnete. In seiner aktiven Zeit hatte Kastell bisweilen mit unverblümten Äußerungen Aufsehen erregt und sich damit vermutlich um eine Berufung an eines der höchsten Gerichte gebracht. »Begründet wird das natürlich gern mit pädagogischen Intentionen«, sagte der knorrige alte Mann, »aber in Wahrheit steckt bei vielen Kollegen schlicht und einfach Faulheit dahinter. Wenn Sie als Richter ein hartes Urteil fällen, dann wird das vom Beklagten in aller Regel angefochten. Das heißt, Sie müssen Ihr Urteil sorgfältiger begründen, wenn es hart ausfällt, was naturgemäß mehr Arbeit macht. Geht der Beklagte daraufhin in Revision, haben Sie noch einmal Arbeit, und falls Ihr Urteil von einer höheren Instanz aufgehoben wird, macht sich das auch nicht gut. Sie müssen als Richter also allerlei Nachteile in Kauf nehmen, wenn Sie ein hartes Urteil fällen. Fällen Sie dagegen ein mildes Urteil, geht der Beschuldigte zufrieden aus dem Saal, und Sie sind die Sache los.«
    »Aber das Opfer geht in dem Fall nicht zufrieden aus dem Saal«, meinte Ingo.
    »Ja, schon«, räumte der Richter ein. »Doch im Unterschied zum Beklagten kann das Opfer das Urteil nicht anfechten.«
    Ingo stutzte. »Nicht?«
    »Nein. In unserem Strafrecht gilt bei Kapitalverbrechen, dass die Staatsanwaltschaft Hauptkläger, das Opfer dagegen nur Nebenkläger ist. Und nur der Hauptkläger kann in Revision gehen. Da die meisten Staatsanwälte sich aber ebenfalls überfordert fühlen, werden milde Urteile in der Regel nicht beanstandet.«
    »Das heißt, alle sind fein raus, mit Ausnahme des Opfers«, resümierte Ingo.
    »So ist die Praxis«, bestätigte der pensionierte Richter.
    Ingo fiel wieder ein, wozu er sich verpflichtet hatte, um Hinrich Kastell in seine Sendung zu bekommen. Höchste Eisenbahn, denn die Zeit neigte sich schon dem Ende zu. »Um den Unterschied zwischen Theorie und Praxis geht es auch in Ihren Lebenserinnerungen, die dieser Tage herausgekommen sind«, sagte er rasch und holte das Buch hervor, das bis jetzt in einer Seitentasche seines Sessels gesteckt hatte. Er hielt es in die Kamera. »Hinrich Kastell, ›Schuldig im Sinne der Anklage‹, erschienen im Jonny-K-Verlag. Für neunzehn Euro neunzig in jeder guten Buchhandlung erhältlich.«
    »In die Katakomben«, sagte der Revisor, als es die Treppe ins Untergeschoss hinabging, wo die meisten

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