Todesengel: Roman (German Edition)
hatte noch offen; er rettete sich vor dem Regen hinein, kaufte eine Ausgabe des Abendblatts und wartete, bis sie davongefahren war, ehe er nach Hause ging.
Die Wohnung war erschreckend still, als er aufschloss. Ihm fielen die Polizisten wieder ein, die Haussuchung, ja richtig, das hatte er gerade so schön verdrängt gehabt.
Eigenartig. Als sei es gar nicht seine Wohnung. Ingo zog seinen Parka aus, das Jackett, stand unschlüssig da. Putzen, beschloss er. Er würde aufräumen, alles durchputzen. Zum ersten Mal im Leben nicht aus lästiger Notwendigkeit, sondern aus einem regelrechten Bedürfnis heraus. Und anschließend eine lange, heiße Dusche.
Es war nach elf Uhr, als er endlich mit allem fertig war, aus der Dusche kam und sich wieder einigermaßen wohlfühlte. Hunger hatte er keinen mehr, er holte sich nur einen Joghurt aus dem Kühlschrank, der sowieso wegmusste, und löffelte ihn im Bademantel auf der Couch. Fertig. Er war fix und fertig.
Das Telefon klingelte, als habe es darauf gewartet, bis er den Becher in Ruhe geleert hatte. »Ich bin’s«, meldete sich Melanie mit seltsam weicher Stimme.
»Oh«, sagte Ingo. Nicht schon wieder der verdammte Papagei!
»Ich hab dich heute zusammen mit einem Jungen gesehen«, sagte sie.
»Mit einem Jungen?«, echote Ingo, der im ersten Moment nicht begriff, wovon sie redete.
»Dreizehn Jahre alt, schätz ich mal. U-Bahn Mitte. Ihr seid zusammen in die 12 nach Spannwitz gestiegen.«
»Ach so«, meinte Ingo. »Ja. Das war Kevin. Der Sohn, ähm … einer Bekannten.«
»Ach so«, sagte sie, mit jenem vieldeutigen, skeptisch-verletzlichen Melanie-Ton in der Stimme, den er nur zu gut kannte. Dem Tonfall, aus dem immer alles hatte werden können, eine heiße Liebesnacht genauso wie ein erbitterter Streit – je nachdem, wie es weiterging.
»Ich hab dich nicht gesehen«, gestand Ingo. »Übrigens ist Kevin vierzehn.«
»Ich war in der 7.« Die Linie zur Universität. Das hieß, sie hatte den Vormittag damit verbracht, über einem Komma ihrer Magisterarbeit zu brüten oder eine Fußnote zum drölfzigsten Mal nachzuprüfen. Weil die Magisterarbeit von Melanie Gehrmann eines Tages als die vollkommenste Arbeit gelten sollte, die eine Studentin der Literaturwissenschaften jemals eingereicht hatte. »Ihr habt euch angeregt unterhalten, der vierzehnjährige Kevin und du.«
»Kann sein.« Er hatte gar nichts mehr von Evelyn gehört, fiel ihm dabei ein. Ob alles geklappt hatte. Wie Kevin das Training fand.
»Deine Sendungen schau ich mir übrigens immer noch an«, fuhr Melanie fort. »Ich wusste gar nicht, dass du so was kannst.«
»Nun ja …« Ingo dachte an die Rasselbande, die er damals, zu Studienzeiten, zu bändigen gehabt hatte. Verglichen damit, war dieser Job beinahe einfach.
»Echt. So auf dem Bildschirm wirkst du richtig souverän.«
»Tja. Ist halt mein Thema.« Er räusperte sich. »Vielen Dank übrigens noch mal für den Tipp am Montagabend.«
»Ach so.« Man konnte förmlich hören, wie ihre Begeisterung verpuffte. »Ich weiß nicht. Markus hat das mitgekriegt, glaub ich. Dass ich dir Bescheid gesagt habe. Er war am Dienstagabend nach der Sendung stinkesauer.« Sie zögerte. »Und heute ist er schon wieder nicht nach Hause gekommen.«
Ingo stutzte. »Was heißt das?«
»Na ja. Das macht er manchmal, wenn er Wut auf mich hat. Dann bleibt er nachts weg.«
»Was? Arbeitet er dann durch oder was?«
»Quatsch«, sagte Melanie, als sei er der begriffsstutzigste Mann der Welt. »Er geht natürlich zu irgendeiner anderen Frau. Der Scheißkerl.«
Ingo musste blinzeln, um das Gefühl loszuwerden, einen surrealen Traum zu träumen. »Erzählst du mir gerade, dass dein Matschi dich mit anderen Frauen betrügt, wenn ihr Streit habt?«
»So oft streiten wir nicht.«
»Und das lässt du dir gefallen?«
»Natürlich nicht. Ich sag ihm schon die Meinung. Lautstark. Kennst du ja.«
Es musste ein Traum sein. Einer von der Sorte, wie man ihn in der Nacht nach einem Stück absurden Theaters träumt. »Also, ich will ja nicht meckern, aber ich hab solche Sachen jedenfalls nie gemacht. Egal, was zwischen uns los war.«
»Ja«, sagte sie, aber es klang alles andere als nostalgisch. »Vielleicht war das der Fehler.«
»Wie meinst du das?«
»Markus ist eben jemand, der weiß, was er will, und der sich nichts gefallen lässt. Der einen klaren Standpunkt hat. Das ist nicht immer einfach, aber es imponiert mir irgendwo auch.«
»Ich hab’s dir also zu einfach
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