Todesengel: Roman (German Edition)
nicht vor, was Schlechtes über deinen Opa zu schreiben«, erklärte er. »Ich bin auf seiner Seite.«
Kevin nickte. »Gut.« Noch nie hatte Ingo so viel Erleichterung in einem einzigen Wort gehört.
»Tschüss«, sagte er, ging und zog die Tür hinter sich zu. Die dumpfe Stille des Treppenhauses hüllte ihn ein, der Duft von Tomatensoße wich dem Mief von fünfzig Jahren Bohnerwachs. Ingo musste auf dem Weg hinab einen Moment stehen bleiben, um das Gefühl loszuwerden, das alles gerade nur geträumt zu haben.
Als er wieder auf der Straße stand und sein Handy einschaltete, sah er, dass Melanie nicht weniger als elf Mal angerufen hatte. Und noch während er überlegte, was er nun machen sollte, klingelte es wieder, wieder Melanie.
Er nahm den Anruf an. »Und? Ist er tot?«
»Wo warst du?«, kreischte eine kaum wiederzuerkennende Stimme aus dem Hörer. »Ich hab mindestens zehnmal versucht, dich anzurufen!«
»Elfmal, wenn du ’s genau wissen willst«, sagte Ingo.
»Du musst mir helfen!«
»Du wirst doch mit einem verdursteten Vogel zurechtkommen. Aufkehren und ab damit in den Mülleimer.«
»Lass die blöden Witze.« Er wusste genau, was für ein Gesicht sie machte, wenn sie so klang. »Er ist zurück in der Wohnung, aber ich hab ihn nicht in den Käfig gekriegt. Jetzt sitzt er in Markus’ Arbeitszimmer oben auf dem Regal und …« Ihre Stimme bebte regelrecht. »Und er hat ein paar Seiten aus seinem Manuskript in den Krallen!«
Ingo unterdrückte ein Gähnen. »Na und?«
»Markus’ neues Buch! Das er in zwei Wochen abgeben soll!«
»Du meine Güte, Mel, das ist doch nicht so tragisch. Dann soll er sich die Seiten halt noch mal ausdrucken.«
»Markus«, belehrte sie ihn hochnäsig, »schreibt auf einer Schreibmaschine.« Es klang wie: Er schreibt mit Gänsekiel auf handgeschöpftem Bütten.
Ingo musste unwillkürlich lachen. »Ist nicht wahr.«
»Markus sagt, dass moderne Computer die Flüchtigkeit des Wortes zum Prinzip erheben und durch ihr Angebot jederzeitiger Reversibilität dazu verleiten –«
»Ja, ja. Und ich sage: Selber schuld.« Er hatte null Lust, den Rest des Nachmittags an einen gemütskranken Papagei zu verschwenden. »Dann rufst du ihn jetzt am besten an und sagst ihm, dass seine getippten Worte wider Erwarten doch flüchtig sind.«
»Markus hat Fachbereichstagung. Da kann ich ihn unmöglich rausholen.«
»Da lob ich mir doch den Computer mit seinem Angebot jederzeitiger Reversibilität.«
»Ingo«, bat Melanie. »Bitte!«
Jetzt war jener Klang in ihrer Stimme, dem Ingo nichts entgegenzusetzen hatte. Der ihn an Zeiten erinnerte, die nie wiederkommen würden. Mit dem sie ihm etwas versprach, das sie nicht halten würde. Er wusste es. Er wusste es genau. Genau das hatte er befürchtet.
Er seufzte. »Okay, okay. Ich komm ja.«
»Justus«, sagte Johannes Barth in der Teeküche. »Auf ein Wort.«
»Ja?«, meinte Ambick zurückhaltend. Polizeipsychologen neigten seiner Erfahrung nach dazu, aus jeder Begegnung zu zweit ein therapeutisches Gespräch zu machen.
»Staatsanwalt Ortheil. Es gibt etwas, was du über ihn wissen solltest. Im eigenen Interesse.«
Ambick musterte sein Gegenüber skeptisch. Was sollte das werden, eine Verbrüderung mit dem Neuling? In seiner bisherigen Laufbahn hatte er gelernt, dass man sich in einer neuen Umgebung am besten erst einmal aus allem raushielt, solange man noch nicht verstanden hatte, was für Spielchen liefen. Das gedachte er auch hier so zu handhaben, nicht zuletzt, weil seine Beförderung zum Kriminalhauptkommissar ebenfalls erst zwei Monate her war. Also gab er nur ein unbestimmtes Brummen von sich, das Jo interpretieren mochte, wie er wollte.
»Ortheil nimmt diesen Fall persönlich«, erklärte der Psychologe. » Sehr persönlich. Würde er natürlich nie zugeben, vor allem nicht vor sich selbst. Aber er hatte einen jüngeren Bruder, der von DDR-Grenzern erschossen worden ist.«
»Aha.«
»Ist hier im Haus ein offenes Geheimnis. Jeder weiß es, niemand erwähnt es. Der Bruder hieß Niklas. War siebzehn, als er versucht hat, über die Ostsee zu schwimmen. Sie haben ihn einfach abgeknallt und seelenruhig abgewartet, bis sein Leichnam an Land gespült worden ist.« Jo tätschelte Ambicks Schulter. »Nur, damit du Bescheid weißt.« Er nahm seine Kaffeetasse und ging.
Na toll. Ambick stellte seine Tasse unter den Füllstutzen, drückte die Taste. Während die Maschine summte, dampfte und rumorte, bewegte er seinen Kopf in dem vergeblichen
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