Todesengel: Roman (German Edition)
Versuch, seine Verspannungen loszuwerden. Er hatte eine Besprechung mit den Ermittlern hinter sich, die für ihn arbeiteten, und das Gefühl, bei denen immer noch auf dem Prüfstand zu stehen. Auf dem Rückweg in sein Büro überlegte er, ob er das mit Ortheils Bruder lieber nicht erfahren hätte, kam aber zu keinem Schluss.
Als Neuling im Dezernat war er natürlich im unattraktivsten Büro gelandet: eng, seltsam geschnitten, mit schmalen Mattglasfenstern, die auf einen ohnehin zu engen Lichtschacht hinausgingen, sodass man zu jeder Tageszeit künstliche Beleuchtung brauchte. Er teilte es sich mit Kriminaloberkommissar Enrique Kader, den alle nur Enno nannten und der nebenher so etwas wie der inoffizielle Computerguru der Abteilung war; derjenige, der widerspenstige Drucker zum Laufen brachte, sich mit Treibern auskannte und dergleichen. Was den Effekt hatte, dass man ihn nur selten an seinem Schreibtisch antraf.
Staatsanwalt Dr. Lorenz Ortheil war schon da. Er saß auf dem Besucherstuhl, wie immer piekfein gekleidet: sichtbar teurer Anzug, Weste, Einstecktuch, eine fast geckenhaft gebauschte Krawatte mit goldener Nadel. Die Kollegen behaupteten, Ortheil besäße so viele Krawatten, dass es Jahre dauere, bis man eine ein zweites Mal zu Gesicht bekäme.
Eine goldene Armbanduhr besaß er natürlich auch. Die schwenkte er, als Ambick hereinkam. »Fünf nach.«
»Ihnen ebenfalls einen schönen guten Morgen«, sagte Ambick, ging um ihn herum an seinen Schreibtisch und stellte die Tasse ab. »Wollen Sie einen Kaffee?«
»Danke, ich bin schon auf hundertachtzig«, erwiderte der Staatsanwalt. »Neue Erkenntnisse wären mir lieber.«
Eine der Neonröhren flimmerte enervierend, immer noch, obwohl Ambick bereits zwei Bedarfsanforderungen an den Hausdienst geschickt hatte. An der großen Pinnwand hinter ihm hingen Fotos und Dokumente anderer Mordfälle, größtenteils noch von seinem Vorgänger ererbt.
»Die Theorie, dass es Sassbeck war, können wir, glaube ich, beerdigen.« Ambick zog den Laborbericht aus der Schublade. »Die Schmauchspuren an Sassbecks Händen sind so schwach, dass sie die Nachweisgrenze streifen. Er kann nicht selber geschossen haben.«
»Nicht so voreilig«, sagte der Staatsanwalt und streckte die manikürte Hand nach dem Bericht aus. Ambick reichte die Mappe über den Tisch.
Das Auffallendste an Ortheils Erscheinung waren seine langen, blonden Locken, die ihm so prachtvoll bis auf die Schultern herabfielen, als sei er einem mittelalterlichen Gemälde entstiegen, beispielsweise dem Selbstbildnis Albrecht Dürers. Mit seinen weichen, fast weiblich wirkenden Gesichtszügen hätte man ihn, wäre der Anzug nicht gewesen, für einen Kindergärtner oder einen Grundschullehrer halten können, und in keinem Fall hätte man ihn für so alt gehalten, wie er war, nämlich knapp fünfzig. Staatsanwalt Dr. Lorenz Ortheil schien nicht nur das Geheimnis unbegrenzten Reichtums zu kennen, sondern auch das ewiger Jugend.
Lediglich das Geheimnis des höflichen Umgangs mit seinen Mitmenschen hatte sich ihm bisher weitgehend entzogen.
»Wir haben keine nennenswerten Schmauchspuren, weder an seinen Händen noch an seinem Mantel«, zählte Ambick an den Fingern ab. »Um als Täter infrage zu kommen, hätte er Handschuhe tragen und, ehe er ohnmächtig geworden ist, einen anderen Mantel anziehen müssen. Er hätte außerdem nicht nur die Tatwaffe, sondern auch die Handschuhe und den ersten Mantel verschwinden lassen müssen. Zweitens – beide Jungen wurden in den Hinterkopf geschossen. Wie hätte er das machen sollen, wenn sie auf ihn einschlagen?«
Die Tür öffnete sich. Johannes Barth. Der Psychologe blieb beim Aktenschrank neben der Tür stehen – er setzte sich bei Besprechungen grundsätzlich nie – und machte eine Geste, die wohl bedeutete, man solle ihn gar nicht groß beachten.
»Vielleicht haben sie aufgehört, ihn zu schlagen, sich abgewandt und peng, da erschießt er sie?«, schlug Ortheil vor. »Aus Rache?«
»Und legt sich danach zwischen sie?«
»Man hat schon Pferde kotzen sehen.« Der Staatsanwalt blätterte ziellos in dem Bericht. »Haben Sie den Bahnsteig auf Kampfspuren an anderen Orten untersucht? Blut? Sonstige Spuren?«
Ambick gab ein unwilliges Brummen von sich. »Auf so einem Bahnsteig findet man alles . Auf dieser Linie werden die Bahnhöfe morgens um fünf Uhr gereinigt. Das heißt, als Sassbeck aufgefunden wurde, war der Dreck eines ganzen Tages drauf. Da sind Untersuchungen wenig
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