Todesengel: Roman (German Edition)
Ingo stellte grinsend die Einkäufe ab. Bestimmt wollte Rado ihm zu seinem Artikel gratulieren.
Voller Vorfreude wählte er die Nummer seines Lieblingschefredakteurs, doch der bellte sofort los: »Scheiße! Wo warst du? Hast du das gesehen?«
»Ich … Was?«
»Die Tagesschau. Schau’s dir an und melde dich wieder.« Weg war er.
Ingo legte auf in dem Gefühl zu träumen. Konnte das wahr sein? Hatte er es in die Tagesschau geschafft?
Aber warum war Rado deswegen aufgebracht? Irgendwie hatte sein Tonfall nicht gepasst. Ganz und gar nicht.
Mit einem unguten Gefühl rief Ingo die Website der Tagesschau auf. Die letzte Sendung war die von siebzehn Uhr, das Video schon online verfügbar. Das vorletzte Thema, direkt vor dem Sport, war betitelt: Wende im U-Bahn-Fall? Er klickte den Link an.
Vor ein paar nichtssagenden Bildern vom Tatort erklärte ein Sprecher kurz die Hintergründe des Falls. Dann, während die Onlineausgabe des Abendblatts eingeblendet wurde, fuhr er fort, ein Interview mit dem »Überlebenden« stelle Behauptungen auf, die den Mutmaßungen der Polizei widersprächen: Ein offenbar als »Superheld« Verkleideter habe angeblich in die Auseinandersetzung eingegriffen und die beiden Jugendlichen erschossen.
Schnitt auf das Gesicht des Staatsanwalts. »Wir halten das für eine Schutzbehauptung«, erklärte der ungehalten. »Zwar haben wir leider keine Videoaufzeichnung der Tat selber, aber dafür lückenlose Videos aller Zugänge zur U-Bahn-Station. Auf diesen Aufzeichnungen ist niemand zu sehen, auf den die Beschreibung auch nur annähernd passen würde.«
»Von diesen Videos war bisher keine Rede«, hakte der Interviewer nach.
»Aus ermittlungstaktischen Gründen. Aber wir stellen sie morgen Vormittag auf einer Pressekonferenz vor. Dann werden Sie feststellen, dass diese fantasievollen Behauptungen jeder Grundlage entbehren.«
Ende des Berichts.
Das klang tatsächlich nicht gut. Ingo rieb sich nachdenklich den Hals. Gar nicht gut sogar.
Wie konnte das sein? Er verstand es nicht.
Er vertippte sich, als er zurückrief, und musste ein zweites Mal wählen.
»Hast du’s gesehen?«, schnaubte Rado, als er abnahm, ohne Gruß, ohne alles.
»Ja.«
»Was ist mit diesen Videos? Hast du das nicht gegengecheckt?«
»Nein.«
Rado gab ein zorniges Grollen von sich. »Mann! Muss ich dir deinen Job beibringen?«
Hatte Ingo sich schon vor dem Anruf unwohl gefühlt, fühlte er sich nun richtiggehend schuldig. Kam ihm sein Artikel wie reinste Stümperei vor. Wäre er am liebsten einfach spur- und schmerzlos vom Antlitz der Erde verschwunden.
»Also, Rado«, meinte er hilflos, »du hast gesagt, dein Traum wäre ein exklusives Interview. Und das hab ich dir gebracht, auf den letzten Drücker. Wie hätte ich da noch irgendwas checken sollen?«
»Du hättest mir wenigstens sagen können, dass du nicht dazu gekommen bist!«
Ja. Richtig. Das hätte er tun können. Er war zu hektisch gewesen, zu begeistert von der Vorstellung, dass ein weißer Rächer –
»Ich hab einfach aufgeschrieben, was Sassbeck mir erzählt hat«, beteuerte Ingo und war sich in dem Moment nicht mehr sicher, beim Abhören der Aufnahme auch wirklich alles korrekt verstanden zu haben. »Ich kann dir nur sagen, der Mann glaubt, was er sagt. Hundertprozentig. Er irrt sich vielleicht, aber er hat mich nicht angelogen.«
Rado atmete laut hörbar. »Na und? Solche Feinheiten interessieren doch kein Schwein. Wie stehen wir jetzt da?«
Natürlich meinte er damit: Wie stehe ich jetzt da?
»Soll ich morgen auf diese Pressekonferenz?«, bot Ingo an. Er würde auch nichts dafür berechnen, nicht einmal sagen , dass er nichts berechnete, und hoffen, dass es Rado trotzdem irgendwann auffiel.
Doch der bekam erst mal Schnappatmung. »Auf keinen Fall! Du lässt dich da nicht blicken.« Grollender Atemzug, ein dahingeworfenes: »Ich schick jemand anders.«
Mit anderen Worten: Ingo war den Fall los.
Er räusperte sich. »Hat sich die Zeitung wenigstens gut verkauft? An meinem Kiosk –«
»Weiß ich doch jetzt noch nicht«, knurrte Rado. »Wir haben mehr ausgeliefert, ja. Ob sich das gerechnet hat, muss man sehen. Das Problem ist ja, dass sich die Zeitung morgen Abend auch wieder verkaufen muss. Und übermorgen. Und so weiter.«
Damit kappte er die Verbindung ohne ein weiteres Wort.
Ingo legte auf mit dem Gefühl, nur noch aus einer Hülle um ein großes Loch zu bestehen. Er musterte seine Einkäufe, den Hals der Sektflasche, die zwischen den
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