Todesengel: Roman (German Edition)
Artikel, die er schrieb. »Er meinte, Sie sollen mir alles Material, das Sie haben, zur Verfügung stellen.«
Obwohl Ingo eine Entscheidung wie diese erwartet hatte, traf es ihn doch. Er war also tatsächlich raus. Hatte es wieder einmal versiebt.
»Was für Material?«, fragte er grimmig.
»Was Sie eben haben«, sagte Kleemann, als interessiere es ihn im Grunde nicht.
Wahrscheinlich tat es das auch nicht. Kleemann war ein gehorsamer Befehlsempfänger, der dröge Artikel schrieb und alles machte, was man ihm sagte, darüber hinaus aber nichts. Ein betulicher Erbsenzähler mit Stirnglatze, fliehendem Kinn und einem Kleidungsstil, der sich an Filmen aus den Fünfzigern zu orientieren schien.
»Ich habe nur die Aufnahme des Interviews und ein paar Fotos«, erklärte Ingo. »Die kann ich Ihnen mailen.«
»Ja, danke«, sagte Kleemann. Es klang wie: Ich hab eh keine Ahnung, was ich damit machen soll.
Rado würde ihm vorgegeben haben, wie der Artikel auszusehen hatte, und Kleemann würde ihn dann genau so schreiben.
»Was hat Herr Törlich Ihnen denn gesagt, über welche Aspekte Sie berichten sollen?«
»Öhm«, machte Kleemann, »also … eher so die menschliche Ebene. Sie wissen schon. In der Pressekonferenz heute hat die Polizei angedeutet, dass der alte Mann vielleicht nicht mehr ganz richtig im Kopf ist. Da wäre es interessant, herauszuarbeiten, wie er so geworden ist, was ihn dazu gebracht hat, sich diese Engel-Geschichte zusammenzufantasieren. Ob andere ehemalige Grenzbeamte ähnliche Entwicklungen durchgemacht haben. Und so weiter. Die menschliche Ebene halt. Das geht immer, meint Herr Törlich.«
Ingo legte die freie Hand vor die Augen, massierte sich die Schläfen. Das würde Evelyn bestimmt nicht gefallen.
»Okay«, sagte er matt. »Ich schick Ihnen die Dateien.«
Nach dem Gespräch ließ er sich auf den nächstbesten Stuhl fallen, weil ihn auf einmal alle Energie verließ. Er konnte richtig spüren, wie sie davonfloss und spurlos versickerte.
Zum Teufel mit dem Aufräumen. Er schickte Kleemann die versprochene E-Mail und blieb anschließend vor dem Computer sitzen, um den Rest des Tages sinnlos herumzusurfen.
Wie immer stieg Gülay Azmi auf dem Heimweg von der Schule eine Station früher aus, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen: Das sparte ihr fünfzehn Euro im Monat für die Fahrkarte, weil sie auf diese Weise eine Zone weniger brauchte. Und so weit war das nicht; die Straßenbahn fuhr einen Bogen, den man abkürzen konnte. Man brauchte sich dazu nur durch ein Absperrgitter zu zwängen, dann kam man in eine Geisterstraße: alte, verlassene Häuser, die Fenster und Türen zugenagelt, seit Jahren schon, weil hier irgendetwas Großes gebaut werden sollte. Man wusste nur noch nicht, was – ein Stadion? Ein Einkaufszentrum? Alle hofften, dass es kein Industriegebiet werden würde.
Auf halber Strecke zwischen all den zerfallenden Häusern war ein Grundstück leer geblieben. Ein Baum stand darauf, schön gewachsen wie im Bilderbuch, ringsum Wiese, und von einem Ast hing ein Stück Seil herab, vielleicht das Überbleibsel einer Schaukel, die da mal gehangen hatte. Gerade als Gülay diese Stelle passierte, pingte es leise in ihrer Tasche. Eine SMS.
Sie blieb stehen, sah nach. Ruf mich an, sobald du kannst. Ich muss dir was total Dringendes sagen. Timo.
Gülay las es mit Unbehagen. Timo war ihr Ex-Freund. Sie hatte mit ihm Schluss gemacht, weil er ihr zu zudringlich geworden war. Er hatte nicht akzeptieren wollen, dass für sie Sex vor der Ehe nicht infrage kam; hatte richtig hässliche Dinge zu ihr gesagt, als sie ihm das erklärt hatte. Es war ihr gar nichts anderes übrig geblieben, als die Sache zu beenden. Es tat ihr selber noch weh.
Seither bedrängte er sie. Rief dauernd an. Sie hatte schließlich den Klingelton für seine Nummer auf lautlos gestellt, doch für SMS funktionierte das nicht.
Was er ihr wohl so Dringendes zu sagen hatte?
Sie hatte ein schlechtes Gefühl dabei, aber sie rief ihn trotzdem zurück.
Er ging sofort ran. »Hi, Gülay«, sagte er mit dieser Stimme, die sie trotz allem immer noch mochte. »Wo bist du grade?«
»Auf dem Heimweg«, erwiderte sie. »In der Heisigstraße. Weißt du doch.«
»Wie war die Schule?«
»Pff. Langweilig. Zwei Stunden Mathe am Nachmittag halt.«
»Du klingst auch so. Echt hart. Kann ich mir vorstellen.«
Auf einmal klang er wieder richtig nett. Was war los? »Du wolltest mir was Dringendes sagen«, erinnerte Gülay ihn.
»Ja, aber
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