Todesengel: Roman (German Edition)
Puzzlesteine seines Lebens plötzlich von selbst an die Stellen gefallen, an die sie gehörten.
Eines dieser Puzzlesteinchen war, möglicherweise, Evelyn. Er freute sich darauf, sie zu sehen. Auch auf das Essen. Ein Essen, das konnte zu allem Möglichen führen.
Natürlich würde er nichts überstürzen. Er hatte seit der Trennung von Melanie keinen Sex mehr gehabt, davon durfte er sich nicht beeinflussen lassen. Doch er hatte ein gutes Gefühl, was heute Abend betraf. Wenn er sich jemals wie ein Sieger gefühlt hatte, dann heute!
Er sah kaum auf, als der Mann in dem fleckigen Daunenparka einstieg. Nahm nur am Rande wahr, wie der Kerl unschlüssig durch den weitgehend leeren Wagen wanderte, während die U-Bahn wieder anfuhr.
Es war wie ein Schock, als er sich ausgerechnet Ingo gegenüber hinsetzte. Sich schwer in den Sitz fallen ließ und ihn herausfordernd fixierte.
Ingo erstarrte. Der Mann sagte nichts, glotzte nur und dünstete üble Gerüche aus, nach billigem Alkohol, nach ungewaschenen Kleidern, nach Magenkrankheiten. Es war ein aggressives Glotzen. Der Typ wusste genau, dass er Räume verletzte, Grenzen übertrat, sich aufdrängte.
Ingo räusperte sich, stand auf, innerlich frierend, und setzte sich woandershin. Das war ja hoffentlich deutlich genug!
»He!«, rief der Mann ihm quer über die leeren Sitzreihen nach. »Scheißkerl! Was glaubst du, wer du bist? He? Was Besseres, he? Ein feiner Pinkel? Ich kenn solche Typen wie dich! Die sollte man alle vergasen. Alles Scheißkerle. Schwatzen dir erst Kredite auf, und wenn’s ihnen einfällt, dann wollen sie sie wieder zurück, scheißegal, ob sie einen damit ruinieren!«
Offenbar hatte der Mann ein Problem mit Bankern und hielt Ingo für einen, des Anzugs wegen vermutlich. Ingo antwortete nicht. Er würde sich nicht provozieren lassen!
Der Zug fuhr in die nächste Station ein. Ob er aussteigen und auf eine andere Bahn warten sollte? Nein. Wo kam man denn da hin, wenn man sich von so jemandem bestimmen ließ?
Am besten, er beachtete den Kerl gar nicht. Dann würde sich dessen Ausbruch einfach totlaufen.
Draußen auf dem Bahnsteig standen zwei Uniformierte. Ingo sah sie auffordernd an, in der Hoffnung, dass sie sahen, was hier drinnen abging.
»Vergasen sollte man euch alle!«, brüllte der Mann. »Euch den Schädel einschlagen! Die Fresse polieren, dass euch die Zähne zum Arschloch rausfallen!«
Die Leute, die einsteigen wollten, bekamen das alles sehr wohl mit, hielten vor den Türen inne, stiegen lieber in den nächsten Wagen.
Die beiden Uniformierten wandten sich ab.
Ingo funkelte ihre Rücken an und wünschte ihnen die Krätze an den Hals. Der Zug fuhr wieder an.
»He, Arschloch«, krakeelte der Mann und hieb unvermittelt mit der geballten Faust gegen die Lehne, dass es krachte. »Ich glaub, ich polier dir jetzt die Fresse. Du Sackgesicht. Du Schwuchtel. Du Drecksack.« Wieder und wieder boxte er gegen den Sitz, dann gegen eine der Haltestangen, schlug schließlich auf die Fensterscheibe ein, mit solcher Wucht, dass man es im ganzen Wagen hörte. »Ich mach dich fertig! Ich sorg dafür, dass du kriegst, was du verdienst, du Saukerl! Ich pack deine verdammte Krawatte und würg dir das Leben damit raus, bis du blau anläufst und dir die Zunge anschwillt und deine Augen rausquellen –«
Die nächste Station. Ingo sprang auf, flüchtete hinaus auf den Bahnsteig. Der Mann folgte ihm nicht. Gott sei Dank. Ingo blieb stehen, am ganzen Leib zitternd.
Hilflose Wut erfüllte ihn, regelrechter Hass auf alle die Typen, die einfach um sich schlugen, wenn ihnen danach war, die es einen Dreck interessierte, was sie damit anrichteten. Himmel noch mal, hatte der Racheengel nicht recht? Was ging der Welt verloren, wenn solche Gestalten aus dem Verkehr gezogen wurden? Nichts. Nicht das Geringste, wenn man zur Abwechslung mal ehrlich war.
Aber es war ja niemand ehrlich. Stattdessen war alle Welt damit beschäftigt, ein Spiel zu spielen, das Meine moralischen Maßstäbe sind edler als deine hieß.
Ingo starrte ins Leere, spürte, wie das Zittern nachließ. Wo war die Zuversicht hin, die er gerade noch empfunden hatte? Wo das Hochgefühl? Weg, beides. Der Typ hatte ihn in die Enge getrieben. In einem gewissen Sinn hatte er ihm tatsächlich das Leben rausgewürgt, das schönere, bessere Leben, von dem Ingo einen Moment lang geglaubt hatte, es habe nun endlich angefangen.
Stattdessen erfüllte ihn wieder jenes Lebensgefühl, das ihm so vertraut war wie sein
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