Todesengel: Roman (German Edition)
Fuhrsang ein, die Jüngere der beiden. Sie sei bis heute nicht wieder an der bewussten Stelle vorbeigegangen, brächte es einfach nicht über sich. Bei der bloßen Vorstellung drehe sich alles in ihr um, sagte sie.
»Sie hatten auch medizinisch ziemlich lange mit den Folgen dieses Überfalls zu kämpfen, soweit ich weiß?«, fragte Ingo.
»Kann man so sagen. Im Krankenhaus haben sie erst gemeint, das sei nur eine Platzwunde, haben sie genäht und so – wobei, die Naht sieht man trotzdem noch.« Sie berührte die Wange, wo man eine dünne weiße Linie erkennen konnte, wenn man genau hinsah. »Schöner hat es mich jedenfalls nicht gemacht.«
»Aber das war noch nicht alles?«
»Nein. Ein paar Wochen später habe ich gemerkt, dass irgendwas mit meiner Brücke auf der Seite nicht stimmt. Ich bin zum Zahnarzt, und der hat gemeint, die hätte sich gelockert und sei angerissen. Er meinte auch, dass das ohne Weiteres von dem Schlag mit der Flasche kommen könnte. Ja, und dass man die ganze Brücke neu machen müsse.«
»Und das haben Sie dann machen lassen.«
»Ja, was blieb mir anderes übrig? Ich konnte ja nicht mehr richtig kauen, hab schon Verdauungsprobleme bekommen deswegen. Und es war nicht so einfach, weil der hintere Zahn ja nicht mehr fest war. Ich hatte praktisch das ganze Jahr Zahnschmerzen. Nächste Woche ist aber die hoffentlich letzte Behandlung.«
»Und wie viel hat das alles gekostet?«
»Ich will’s gar nicht so genau wissen. Etliche tausend Euro.«
»Und wer muss das zahlen?«
»Na, wer wohl? Ich natürlich.«
»Wieso nicht der Mann, der Sie angegriffen hat?«
»Ha!« Die Frau schnaubte empört. »Hab ich auch gedacht. Aber mein Anwalt hat gemeint, dazu müsste ich noch einmal separat einen Schadensersatzprozess führen. Und da sei nicht sicher, dass ich ihn gewinne, weil man nicht beweisen kann, dass meine Zähne tatsächlich von dem Schlag kaputtgegangen sind. Da stünde die Diagnose des Krankenhauses dagegen, ganz egal, dass bei denen in der Notaufnahme an dem Abend alles drunter und drüber gegangen ist. Und selbst wenn ich gewinne – obwohl man solche Prozesse nur selten gewinnt –, ist nicht gesagt, dass bei dem Mann überhaupt was zu holen wäre. Der hat wohl im Leben noch nie gearbeitet.«
Ingo wandte sich an die ältere der beiden Frauen. »Frau Schmitt, wie haben Sie das erlebt? Was haben Sie gedacht, als der Mann plötzlich auf Ihre Kollegin losging?«
Sie machte riesige Augen. »Das war so schrecklich. Ich dachte, jetzt schlägt er mich auch noch nieder, und wer weiß, was er dann mit uns macht … Ich war so froh, als Herr Uhl aufgetaucht ist!«
»Was ist dann noch geschehen?«
»Ach, nicht mehr viel. Herr Uhl hat sich um Irmgard gekümmert, hat mit uns auf die Polizei gewartet. Ich bin dann mit ins Krankenhaus gefahren, und irgendwann in der Nacht hat uns ein Taxi nach Hause gebracht.«
»Herr Uhl«, wandte sich Ingo wieder an den Möbelpacker, »wie erging es Ihnen?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ich hab den Polizisten erklärt, was passiert ist, die haben das zu Protokoll genommen, und eigentlich hab ich gedacht, damit ist die Sache gegessen.«
»War sie aber nicht?«
»Nein. Ein paar Wochen später ist ein Brief gekommen, per Einschreiben, vom Amtsgericht. Ich mach auf und denk, ich seh nicht recht – ein Strafbefehl über fünfhundertfünfzig Euro wegen vorsätzlicher Körperverletzung.« Er hob hilflos die Hände. »Weil der Kerl die Treppe runtergefallen ist und sich die Hand gebrochen hat. Und weil ich ihn gestoßen hab, bin ich dran schuld.«
»Sie haben also Zivilcourage gezeigt, bei einem tätlichen Angriff auf Unschuldige ziemlich sicher Schlimmeres verhindert und erhalten dafür anstatt einer Auszeichnung einen Strafbefehl: Kann man das so zusammenfassen?«
»Ja«, sagte der Mann. »Genau so ist es.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Ich hab natürlich Einspruch eingelegt. Ich hab sogar überlegt, ob das irgendwie ein schlechter Witz ist. War aber keiner. Es ist zur Hauptverhandlung gekommen, und da habe ich gemerkt, ich hab keine Chance. Die hatten Videoaufnahmen. Der Bereich rings um die Automaten wird überwacht, weil die manchmal aufgebrochen werden. Die haben gesagt, die Situation sei ja bereinigt gewesen, weil ein Notruf abgesetzt war und der Angreifer aufgegeben hatte; es hätte keinen Grund gegeben, ihn zu schubsen. Ich hab gesagt, hallo, ich wollte den Schweinepriester festhalten, damit er sich nicht verdünnisiert nach all der Scheiße,
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