Todesengel: Roman (German Edition)
die er angestellt hat. Von der Videoüberwachung konnt ich ja nichts wissen. Nein, hieß es, ich sei dem Kerl außerdem körperlich überlegen gewesen. Dass ich den geschubst habe, weil er mir mit der Bierflasche kommen wollte, das haben die nicht gesehen auf den Videos.«
»Und wie ging das aus?«
»Ich hätte ganz klar überreagiert, hat der Richter gesagt. Entweder ich akzeptiere den Strafbefehl, oder ich werde wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem halben Jahr verurteilt.«
»Und dass Sie in die Auseinandersetzung eingegriffen haben, hat dabei keine Rolle gespielt?«
»Doch. Strafmildernd. Deswegen wäre es nur ein halbes Jahr gewesen.« Sein Kopf war rot angelaufen, seine Stimmung im Keller. »Ich meine, hallo? Ich geh doch nicht für ein halbes Jahr in den Knast, nur weil ich ’ne Frau vor ’nem Idioten rette, oder? Da wär ich meinen Job los und was weiß ich noch alles. Also hab ich den Einspruch zurückgezogen und gezahlt. Und bin jetzt vorbestraft.«
»Ich wollte zu seinen Gunsten aussagen«, mischte sich Gisela Schmitt ein. »Dass die Situation bereinigt war, das stimmt einfach nicht. Aber ich durfte nicht!«
»Wie, Sie durften nicht?«
»Ich bin als Zeugin nicht zugelassen worden. Keine Ahnung, wieso.«
Ingo sah Walter Uhl an. »Wie fühlen Sie sich nach all dem?«
»Na, wie wohl?«, schnaubte der Mann. »Wie im falschen Film.«
»Würden Sie noch einmal jemandem helfen?«
»Also, ehrlich gesagt …« Er holte tief Luft, schüttelte sich. »Ja, wahrscheinlich schon. Ich könnt ja nicht mehr ruhig schlafen sonst. Aber es braucht keiner zu glauben, dass sich Zivilcourage lohnt. Man könnte meinen, unserem Staat liegt das Wohl der Verbrecher mehr am Herzen als das seiner Bürger.«
Das gab Applaus. Lange und heftig.
»Ich weiß bis heute nicht, wieso der uns überhaupt attackiert hat«, warf Irmgard Fuhrsang ein, die den Schlag mit der Bierflasche abbekommen hatte und die in diesem Moment immer noch verstört deswegen wirkte. »Ich meine, der war höchstens zwanzig, zweiundzwanzig, für den sind wir doch … ich meine, vielleicht hatte der ein Problem mit seiner Mutter oder –«
»Stop«, unterbrach Ingo und hob die Hand. »Frau Fuhrsang – merken Sie, wie Sie gerade wieder in genau das Fahrwasser geraten, in dem sich die gesamte öffentliche Diskussion ständig bewegt? Was den Täter dazu gebracht hat, so zu handeln, wie er gehandelt hat – wieso fragen wir uns das? Wieso kümmert uns das überhaupt? Sie haben ihm nichts getan. Er hat Sie trotzdem angegriffen. Hat Sie verletzt. Das hätte er nicht tun dürfen, und zwar egal aus welchem Grund .«
Die dunkelhaarige Frau sah Ingo verblüfft an, nickte. »Sie haben recht. Man fragt sich das tatsächlich automatisch. Irgendwie erwartet jeder von einem, dass man sich das fragt. Ob man selber was falsch gemacht hat.«
»Eben. Aber Sie haben nichts falsch gemacht. Der Angreifer hat etwas falsch gemacht.« Ingo blickte in die Kamera, über der das rote Signallämpchen anzeigte, dass sie das aktuelle Bild übertrug. »Liebe Zuschauer, in dieser Sendung interessiert uns nicht, was in den Tätern vorgeht. Die inneren Befindlichkeiten dieser Herrschaften, die anderswo ständig und mit Hingabe diskutiert werden, sollen uns hier in dieser Sendung, erlauben Sie mir den Ausdruck, scheißegal sein. Hier interessiert nur, was sie getan haben. Was sie anderen Menschen antun . Und wir werden nicht – ich wiederhole: nicht – nach Ausreden und Entschuldigungen dafür suchen. Einen Menschen anzugreifen, der einem nichts getan hat, ist falsch und gehört bestraft – Punkt.«
Er stand auf und fuhr, während er langsam in die Mitte der Bühne ging, fort: »Doch da liegt etwas im Argen. Der Staat, der uns beschützen müsste, tut es nicht. Vielleicht schafft er es einfach nicht. Aber warum geht er dann so hart gegen diejenigen vor, die sich und andere in einer akuten Notsituation selber verteidigen? Was wird hier gespielt? Wieso sind offenbar andere Werte wichtiger als die Unversehrtheit des unbescholtenen Bürgers?« Er blieb stehen. »Und warum, liebe Zuschauer, werden uns Fälle regelrecht verschwiegen, in denen jemand einen Unschuldigen gegen Gewalttäter verteidigt hat? Das Video, das wir Ihnen jetzt gleich zeigen, ist mir heute kurz vor dieser Sendung zugespielt worden. Urteilen Sie selbst.«
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Die Zeitung, die Staatsanwalt Lorenz Ortheil auf den Tisch warf, trug eine Schlagzeile, die über mehrere Zeilen ging, groß, fett, schwarze
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