Todeserklärung
längere Sache. – Wir sollten einen Wein anbieten.«
»Wein, ja«, antwortete Gregor Pakulla irritiert.
»Wir haben einen wunderbaren Rotwein«, sagte Frau Praetorius und stand auf, ohne eine Antwort abzuwarten, nahm eine Flasche aus einem Regal an der gegenüberliegenden Wand. »Ein guter Rioja , der sollte es wert sein, meinst du nicht?«
»Ja, nur nicht für dich«, erwiderte Pakulla und bemerkte Knobels fragenden Blick.
»Kirsten ist schwanger«, verkündete er stolz.
»Wir freuen uns sehr auf das Kind. – Verstehen Sie, Herr Knobel: Kirsten, das Kind, all das bedeutet Zukunft, da will ich hin. Man muss irgendwann im Leben an einem Ziel ankommen!«
»Ein Ziel ist das Geld von Esther van Beek« fügte Knobel trocken hinzu.
»Ja, ich will Esthers Geld! Kein Zweifel! Ich habe es von Anfang an gesagt. Ich kann nur wiederholen: Der erste Fehler liegt bei mir und besteht darin, dass ich Ihnen nicht alles erzählt habe. Das werde ich heute nachholen. Der zweite Fehler liegt bei Ihnen, Herr Knobel, und besteht darin, dass Sie unreflektiert Informationen von mir aufgesogen und sich ein Bild von mir und meinem Bruder gemacht haben. Kontrastreicher könnte man sich den Unterschied der Bilder gar nicht vorstellen! Für Sie, Herr Knobel, war ich von Anfang an ein geldgieriger Sack, der an Tante Esthers Erbe will. Aber was, bitte, ist schlimm daran? Warum soll ich Mitleid für Tante Esther oder eine Liebe zu meinem Bruder Sebastian heucheln, die es nie gab? Das Erste, was Sie beide heute erfahren werden: Sebastian und ich sind keine leiblichen Brüder.«
»Daher der Größenunterschied«, warf Marie ein.
»Ich habe irgendwann einmal erwähnt, dass Sebastian und ich vom Aussehen her keine Brüder sein müssen«, erwiderte Pakulla, »aber ich habe nichts weiter erzählt, weil es für den Fall eigentlich ohne Bedeutung ist, im Rahmen der ganzen Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, jedoch als Information unerlässlich ist. Bei unseren Eltern sah es lange danach aus, dass ihre Ehe kinderlos bleiben würde. Man vermutete eine Zeugungsunfähigkeit unseres Vaters, und deshalb kam es zu meiner Adoption. Das gewünschte Kind war da – aber eben kein eigenes. Was kein Problem war, bis unsere Mutter rund zweieinhalb Jahre später doch schwanger wurde. Das gewünschte leibliche Kind war endlich da. Ein Heiland in der Familie Pakulla! In unserer Kindheit und Jugend konnte ich machen, was ich wollte: Ich war gegenüber meinem Bruder stets Zweiter. Wenn er in einer Klassenarbeit ein ausreichend nach Hause brachte, war das besser als ein befriedigend unter meiner Arbeit. Als ich mein Studium an der Dortmunder Universität konsequent betrieb, war das keine Erwähnung wert. Als mein Bruder das von unserem Vater sauer finanzierte Studium der Informatik aufgab, wurde das ohne Räuspern hingenommen. Er war halt so sensibel, der geliebte Sebastian. Dann wurde er Maler und konnte sich überhaupt nicht über Wasser halten. Das war jedoch kein Problem für unsere Eltern: Sebastian wurde unterstützt, schlief dafür bis mittags, arbeitete nach dem Lustprinzip und ließ den Herrgott einen guten Mann sein, wenn ihm danach war. Der blöde Gregor hingegen finanzierte während des Studiums seinen Sport und andere Hobbys durch Nebenjobs. Das war ja selbstverständlich.
Und Esther? – Esther regierte von Holland aus, lebte durch ihre Heirat mit Johann wie eine Made im Speck. Einmal im Jahr fuhren wir mit den Eltern nach Holland in eine kleine Pension nach Scheveningen. Der Ablauf dieser Urlaube war immer der gleiche: Jeden Tag Treffen mit Tante Esther und Onkel Johann. Jeden Mittag gemeinsames Essen mit den van Beeks, die uns selbstverständlich in ihrem demonstrierten Reichtum stets einluden.
Irgendwann, ich war damals elf oder zwölf, sagte ich bei einem dieser Mittagessen meiner Mutter: Heute lade ich ein ! Ich meinte das kindlich ernst. Natürlich hätte ich das Essen nicht bezahlen können, aber Kinder haben ein ganz eigenes Gerechtigkeitsgefühl. Sie wollen etwas zurückgeben, und ich denke, mein Satz beruhte darauf, dass Johann und Esther immer wieder betonten, dass sie einladen und uns jeden Mittag zu opulentem Essen nötigten. – Wie auch immer: Tante Esthers Antwort war Kindchen, das kannst du nicht , und sie lächelte kalt und falsch dabei. Und später – wir machten nach dem Mittagessen immer einen gemeinsamen Spaziergang über die Strandpromenade – fragte ich Tante Esther, warum ich nicht einladen könne. Und sie
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