Todesfee
Haut und Sommersprossen. Sein Gesicht wirkte noch kindlich, ohne eine Spur von Bartwuchs. Fidelma betrat das Zimmer, während Brehon Tuama, wie vorher vereinbart, |308| vor der Tür wartete. Als Verteidigerin des Jungen stand ihr nach dem Gesetz das Recht zu, ihn allein zu sprechen. Braon erhob sich unsicher. Sie bedeutete ihm, wieder auf dem schmalen Holzbett Platz zu nehmen, während sie selbst sich auf einem Hocker vor ihm niederließ.
»Du weißt, wer ich bin?«, fragte sie.
Der Junge nickte.
»Ich möchte, dass du mir deine Geschichte mit deinen eigenen Worten erzählst.«
»Ich habe dem Brehon schon alles gesagt.«
»Der Brehon wird über dich das Urteil sprechen. Ich bin die
dálaigh
, die dich verteidigen wird. Erzähle es mir also.«
Der Junge wirkte nervös.
»Was wird mit mir geschehen?«
»Das hängt davon ab, ob du schuldig oder unschuldig bist.«
»Es interessiert niemanden, ob ein
bothach
unschuldig ist, wenn es um ein Verbrechen geht.«
»Das ist nicht, was das Gesetz sagt, Braon. Das Gesetz ist da, um die Unschuldigen zu beschützen, wer immer sie auch sind, und die Schuldigen zu bestrafen, wer immer sie sein mögen. Verstehst du das?«
»Odar sieht das aber anders«, antwortete der Junge.
»Erzähle mir, was an dem Morgen geschah, an dem du zum Arbeiten zu Muirenn gegangen bist«, wiederholte Fidelma, die es für das Beste hielt, auf Odars Vorurteile nicht näher einzugehen.
»Ich habe Muirenn nicht getötet. Sie war immer nett zu mir. Sie war nicht wie ihr Mann Findach. Er ist böse, und ich habe oft gehört, wie sie ihn dafür getadelt hat. Er behauptet, kein Geld zu haben, dabei weiß doch jeder, dass Schmiede nicht arm sind.«
»Sag mir, was an diesem Morgen geschehen ist.«
»Ich kam zu ihrem Haus und ging hinein …«
|309| »Einen Augenblick. Ist dir irgendetwas aufgefallen? War jemand in der Nähe?«
Der Junge schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Nein. Ich habe niemanden bemerkt, außer Odars Jagdhunden … Er hat zwei große Wolfshunde. Ich habe sie bei Findachs Schmiede in den Wald laufen sehen. Aber sonst war niemand da. Ich bin also zum Haus gegangen. Die Tür stand einen Spalt offen. Ich habe gerufen, und als niemand antwortete, habe ich die Tür aufgestoßen.«
»Und dann?«
»Von der Tür aus konnte ich jemand weiter hinten in der Küche auf dem Boden liegen sehen. Es war Muirenn. Ich dachte, sie wäre hingefallen und hätte sich vielleicht den Kopf aufgeschlagen. Ich kniete mich neben sie und fühlte ihren Puls, aber als meine Hand ihre Haut berührte, bemerkte ich, dass sie kalt war. Da wusste ich, sie war tot.«
»Ihre Haut fühlte sich kalt an?«
»Ja.«
»Was tatest du dann?«, fragte Fidelma.
»Ich erhob mich und …«
»Moment noch. Hast du das silberne Kreuz im Zimmer gesehen?«
»Es war nicht dort. Einen so auffälligen Gegenstand hätte ich auch unter diesen Umständen bemerkt. Ich schaute mich gerade um, als ich ein Geräusch vernahm. Jemand näherte sich dem Haus. Ich geriet in Panik und habe mich im Nebenraum versteckt.« Er zögerte. »Den Rest musst du wissen. Bruder Caisín kam herein und entdeckte mich. Als ich neben Muirenn kniete, war Blut auf meine Kleidung geraten. Niemand wollte mir zuhören, und so beschuldigt man mich nun des Diebstahls und des Mordes. Schwester, ich schwöre dir, dass ich dieses Kreuz niemals gesehen habe, und ich hätte Muirenn niemals getötet. Sie |310| war einer der wenigen Menschen hier, die mich nicht wie den letzten Dreck behandelt haben.«
Das alles sagte er mit einer Ernsthaftigkeit, die man nur schwer in Zweifel ziehen konnte.
Fidelma ging wieder nach draußen zu Brehon Tuama.
»Nun?«, fragte der Brehon düster. »Verstehst du jetzt, weshalb der Fall so schwierig ist?«
»Ich hatte es schon verstanden, als du es mir zuerst erklärt hast«, erwiderte sie kurz angebunden. »Aber lass uns nun Bruder Caisín aufsuchen und hören, was er zu sagen hat.«
»Er ist im Gasthaus untergebracht.«
Sie begaben sich zur Herberge der Stadt, der
bruighean
, die im Zentrum von Droim Sorn lag und Reisenden Unterkunft und Gastfreundschaft bot.
Bruder Caisín war gut gebaut, und trotz seiner Mönchskutte fiel Fidelma auf, dass er eher die muskulöse Statur eines Kriegers als die eines Geistlichen hatte. Als sie seine Gesichtszüge musterte, spürte sie Misstrauen gegen ihn in sich aufsteigen. Seine Augen standen in dem schmalen Gesicht nah beieinander. Sie wirkten verschlagen und schienen ihr Gegenüber nie direkt
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