Todesfee
bemerkte ich, dass die Kleidung eine Leiche war. Es war eine Frau. Ich stand noch dort, als ich hinter einer Tür im Innern des Hauses ein Geräusch hörte. Ich öffnete die Tür und fand den Jungen, Braon, dort versteckt. Er hatte Blutflecken auf der Kleidung, und instinktiv hielt ich ihn fest. Einen Augenblick später kam Findach, der mir von der Schmiede gefolgt war, herein. Er schrie auf, als er die Leiche seiner Frau sah. Durch seinen Schrei wurde noch jemand anderes auf uns aufmerksam, und diese Person lief, um Brehon Tuama zu holen. Das ist alles, was ich weiß.«
Brehon Tuama machte einen besorgten Eindruck, als sie die Herberge verließen.
»Glaubst du, er sagt die Wahrheit? Einmal ein Dieb …? Es heißt doch, dass Gelegenheit Diebe macht, und dieser Mann hatte eine Gelegenheit.«
»Publilius Syrus hat geschrieben, dass ein gestohlener Ochse manchmal den Kopf aus dem Stall streckt«, meinte Fidelma mit geheimnisvollem Lächeln.
Brehon Tuama schaute verwirrt drein. Fidelma fuhr ohne eine Erklärung fort: »Ich werde nach Cluain reiten und mit |314| dem Abt sprechen. Wenn ich zurückkomme, werde ich dieses Rätsel hoffentlich gelöst haben.«
Brehon Tuamas Blick hellte sich auf.
»Dann glaubst du also, dass Caisín schuldig ist?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Die Aue von Cluain war der Ort, an dem Colmán Mac Léníne etwa sechzig Jahre zuvor eine Abtei und Gemeinde gegründet hatte. Es war bereits Abend, als sie die Abtei erreichte und verlangte, unverzüglich dem Abt gemeldet zu werden. Der Abt empfing sie sofort, da er wusste, dass Fidelma auch die Schwester des jungen Königs von Cashel war.
»Du kommst aus Droim Sorn, Lady?«, fragte der betagte Abt, nachdem sie Platz genommen hatten. »Ich vermute, du möchtest mit mir über Bruder Caisín sprechen.«
»Warum vermutest du das?«
»Sein Lebensweg und die Umstände der Tat legen es nahe, ihn des Mordes und Diebstahls zu verdächtigen. Brehon Tuama hat mir mitgeteilt, was vorgefallen ist. Caisín ist trotz seiner Vergangenheit ein guter Mann. Er kam vor zehn Jahren als reuiger Sünder in diese Abtei. Gleich dem verlorenen Sohn in der Bibel wurde er freudig empfangen und ihm wurde vergeben, und er gab uns niemals Anlass, an seiner Umkehr zu zweifeln.«
»Du vertrautest ihm genug, um ihn nach Droim Sorn zu schicken, wo er ein wertvolles Silberkreuz abholen sollte.«
»Das neue Kreuz für unseren Hochaltar.«
»Aber soweit ich es verstehe, hast du ihm nicht das Geld für das Kreuz anvertraut.«
Der alte Mann blinzelte rasch.
»Das Kreuz musste nicht bezahlt werden.«
»Du meinst, dass Findach das Kreuz der Abtei als mildtätige Gabe stiften wollte?«, fragte Fidelma erstaunt.
|315| Der alte Abt lachte etwas schrill.
»Findach hat noch nie mildtätige Gaben verteilt. Ich sollte es wissen, schließlich bin ich der Onkel seiner Frau Muirenn. Er ist ein mittelloser Mann. Er wollte mit dem Kreuz seine Schulden bei der Abtei bezahlen.«
Fidelma hob fragend eine Augenbraue.
»Findach wirft mit Geld nur so um sich. Das Haus, in dem er lebt, gehörte seiner Frau. Sie hatte ihr eigenes Geld, wie es das Gesetz erlaubt. Findach besitzt nichts weiter als seine Schmiede und die Werkzeuge darin.«
Fidelma lehnte sich rasch vor.
»Heißt das, das Vermögen seiner Frau wird Findach zugutekommen, nun da sie tot ist?«
Der Abt lächelte traurig und schüttelte den Kopf.
»Er erhält nichts von ihrem Vermögen. Die Hälfte ihres Geldes fällt dem Gesetz nach an Muirenns Familie zurück. Sie war ein
aire-echta
.«
Dies überraschte Fidelma, denn es kam nicht oft vor, dass die Frau eines Schmieds denselben gesellschaftlichen Rang hatte wie ihr Ehemann.
Der Abt fuhr fort: »Der Rest ihres Besitzes geht an mich, stellvertretend für die Abtei, denn sie wusste, wie oft ich ihrem Ehemann in all den Jahren geholfen habe.«
Fidelma verbarg ihre Enttäuschung darüber, dass sie das soeben aufgetauchte neue Motiv für den Mord an Muirenn sofort wieder verwerfen musste.
»Findach war gebeten worden, einen Kunstgegenstand für die Abtei von Imleach anzufertigen. Anstatt dem Abt von Imleach gegenüber zuzugeben, dass er kein Geld hatte, um das dafür benötigte Silber zu kaufen, bat er mich um ein Darlehen. Als er mir später gestand, es nicht zurückzahlen zu können, bot ich ihm an, ihm genügend Silber zur Verfügung zu stellen, um |316| daraus ein Kreuz für unseren Hochaltar zu schmieden. Damit sollte er seine Schulden bei uns bezahlen.«
»Ich verstehe
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