Todesfee
Philosophie, Religion, Geschichte, Lyrik … von all dem gibt es keine Aufzeichnungen. Haben wir nicht wegen des Verbots, etwas aufzuzeichnen, vieles verloren, das für uns sehr wertvoll wäre?«
Firbis starrte sie missbilligend an und schniefte.
»Ich nehme an, du gehörst zu diesen jungen Leuten, die es begrüßen, wenn die Schreiber des Neuen Glaubens derlei Dinge in der neuen lateinischen Schrift festhalten?«
Fidelma neigte den Kopf.
»Natürlich. Wie sollen zukünftige Generationen die Gedichte, das Recht, die uralten Geschichten und den Verlauf unserer Historie kennen, wenn das nicht aufgeschrieben wird? Mir gefällt es allerdings nicht, dass diese Schreiber sich oft verpflichtet fühlen, die überlieferten Geschichten von den alten |108| Göttern und Göttinnen so zu verändern, dass sie den Bildern des Neuen Glaubens entsprechen.« Jetzt kam Fidelma erst richtig in Fahrt. »Nun, ich habe sogar einen Text gesehen, in dem der Schreiber erklärt, dass der Held Cú Chulainn vom heiligen Patrick aus der Hölle geholt wurde, damit er ihm half, den Hochkönig Laoghaire zum Neuen Glauben zu bekehren. Nachdem Laoghaire zum Christentum übergetreten war, sei Cú Chulainn aus der Hölle erlöst und in den Himmel aufgenommen worden.«
Brehon Morann lehnte sich vor. »Das missbilligst du also?«
Fidelma nickte. »Der Neue Glaube lehrt uns, Gott sei gut, liebevoll und gnädig. Cú Chulainn war ein großer Held, der sein Leben der Verteidigung der Schwachen gegen die Starken gewidmet hat. Er wäre sicherlich von einem solchen Gott nicht in die Hölle verbannt worden und …«
Firbis räusperte sich hörbar.
»Du scheinst recht radikale Ansichten zu vertreten, junge Frau. Aber um deine Frage zu beantworten: zukünftige Generationen sollten sich beim Lernen an die alte Methode halten, sie sollen auswendig lernen und das Wissen mündlich von einem zum anderen weitergeben, über alle Zeiten hinweg. Unsere Tradition ist es, Wissen durch das gesprochene Wort weiterzugeben. So können Außenstehende es uns nicht nehmen.«
»Das geht so nicht. Die alten Zeiten sind vorbei. Wir müssen vorankommen. Aber nicht, indem wir die Bilder unserer Vergangenheit verzerren.«
Brehon Morann unterbrach Fidelma ungeduldig. »Du sagst, wir müssen vorankommen. Zugegeben, das ist richtig. Aber mir liegt im Augenblick daran, in der Angelegenheit voranzukommen, mit der wir es heute zu tun haben. Bis zum Sonnenuntergang muss ich noch andere Studenten prüfen.«
|109| Innerlich stöhnte Fidelma. Sie hatte offensichtlich den
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Firbis durch ihre Ansichten verärgert und Brehon Morann durch ihr Zuspätkommen und durch ihre Unfähigkeit, ihre Meinung für sich zu behalten, irritiert.
Firbis schniefte mehrmals rasch hintereinander. »Nun gut. Pass auf. Ich werde mich nicht wiederholen, und wie immer das außerhalb dieser vier Wände gehandhabt wird, ich lasse nicht zu, dass du dir Notizen machst.«
Er schaute sie herausfordernd an, aber sie murrte nicht.
Nach einem kurzen Schweigen begann er: »Wir werden den Namen des Brehons, der in diesem Fall Recht gesprochen hat, nicht nennen. Er befand eine Frau des Diebstahls für schuldig. Nennen wir diese Frau Sochla.«
Er hielt inne, als erwartete er eine Erwiderung oder Frage von Fidelma.
Dann fuhr er fort: »Die Umstände waren folgendermaßen: Sochla arbeitete in der Burg des Königs von Tethbae. Weißt du, wo das ist?«
Fidelma nickte automatisch. »Tethbae ist ein kleines Königreich nicht weit von hier, das westlich an Midhe angrenzt«, antwortete sie. Sie war stolz auf ihre guten Kenntnisse der Geographie.
»Ja, tatsächlich«, murmelte Firbis und schien beinahe enttäuscht, dass er die richtige Antwort auf seine Frage erhalten hatte. »Es ist ein kleines Königreich, das vor zweihundert Jahren von Maine, einem Sohn des Hochkönigs Niall von den neun Geiseln gegründet wurde.«
Auch das wusste Fidelma, aber sie schwieg.
»Wie ich bereits sagte«, redete Firbis mit nörgelnder Stimme weiter, als hätte sie ihn unterbrochen, »arbeitete Sochla in der Burg von König Catharnaigh. Die Könige von Tethbae bewahrten in einer Schatulle aus Eichenholz und Bronze den mumifizierten |110| Schädel von Maine, dem Gründer des Königreiches, auf, der in einer Schlacht fiel. Maine von den tapferen Taten, so nannten ihn die Dichter. Nach uralter Tradition wurde sein Schädel als Wahrzeichen aufbewahrt, unter dem sich die Bewohner von Tethbae in Kriegszeiten sammelten. Für sie war er ein Symbol
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