Todesfee
Wahrscheinlich können wir davon ausgehen, dass man gesehen hat, dass die Schatulle und der Schädel noch am richtigen Platz standen, als die Leute zum Spielfeld aufbrachen, und dass sie bei ihrer Rückkehr verschwunden waren? Eine Schatulle mit einem Schädel zu entwenden, dazu braucht man keine besonderen Mittel.«
»Du gibst also zu, dass der Richter recht hatte, was die Mittel und die Gelegenheit betrifft?«
|113| Fidelma sah ihn nachdenklich an. »Nichts sagt uns, dass Sochla als Einzige die Mittel und die Gelegenheit zum Diebstahl hatte. Ist es nicht möglich, dass jemand zufällig vorbeikam und die Schatulle stahl, während sich Sochla anderswo in der Burg aufhielt? Ist es nicht möglich, dass eine andere Person die Schatulle absichtlich unter Sochlas Bett gestellt hat?«
Firbis lachte, offensichtlich belustigt von dieser Vermutung. »Und aus welchem Grund?«
»Es könnte dafür viele verschiedene Motive geben, aber man müsste eine ganze Menge Fragen stellen, um sie zu finden und zu bestätigen.«
»Mir scheint, Fidelma, dass du versuchst, Sochla für unschuldig zu erklären«, bemerkte Brehon Morann.
Fidelma schüttelte energisch den Kopf. »Überhaupt nicht. Ich versuche nur herauszufinden, was tatsächlich geschehen ist, ehe ich ein vorschnelles Urteil fälle. Ich hätte sicherlich mehr Fragen zu den Mitteln und der Gelegenheit gestellt. Erzähl mir noch etwas über Sochla. War sie jung oder alt? Wie war ihre Persönlichkeit? War sie verheiratet? Hatte sie Liebhaber, und wenn ja, wer waren sie?«
»Sie war jung«, antwortete Firbis. »Sie hatte kaum das Alter der Wahl überschritten. Ihr Vater gehörte zum Stand der Handwerker, der
dar-nemed
. Er war Gehilfe beim königlichen Hufschmied, seine Tochter arbeitete als Magd in der Burg.«
»Und warum ließ man eine so junge Frau aus ihrem Stand allein in der Burg des Königs zurück, während alle anderen zum Hurley-Spiel gingen? Fürchtete der König keine Feinde, keine Neider, dass er sein Haus und seinen Reichtum so ungeschützt zurückließ?«
Firbis wechselte erneut Blicke mit Morann.
»Ich nehme an, dass man Sochla so etwas fragte?«, drängte Fidelma, als sie keine Reaktion erhielt.
|114| Firbis schniefte. »Was willst du dem Brehon damit unterstellen?«
»
Druimcli
, du solltest wissen, dass ich ihm nichts unterstellen kann. Es ist lediglich meine Pflicht, nachzufragen und so die Wahrheit zu entdecken.«
Man sah dem
druimcli
sein Unbehagen an. »Der König hatte keinen Grund, seine Feinde zu fürchten, und auch keine Angst, dass Neider es auf sein Eigentum abgesehen hatten.«
»Und doch scheint es mir unerhört, dass ein solcher Edelmann seine Burg und seine Besitztümer verwaist und unbewacht zurücklässt.«
»Es war aber so, wie ich dir berichtet habe. Es ist nicht meine Aufgabe, Ereignisse zu kommentieren oder zu spekulieren, warum der eine dies, der andere das gemacht hat.«
Fidelma lehnte sich unvermittelt vor. »Aber ist nicht gerade das die Aufgabe eines Brehon – die Motivation hinter allen Taten zu untersuchen und herauszufinden, ob jemand in verbrecherischer Absicht gehandelt hat oder nicht?«
Druimcli
Firbis setzte sich noch gerader auf. »Ich muss schon sagen, jetzt überschreitest du entschieden deine Befugnisse, junge Frau. Du bist hier, um meine Frage zu beantworten. Was du immer noch nicht gemacht hast.«
»Ich habe das noch nicht tun können, weil die Frage so, wie sie gestellt wurde, nicht zu beantworten ist«, erwiderte Fidelma. »Du hast gesagt, dass Sochla jung war. War sie verheiratet?«
»Nein.«
»Hatte sie einen Geliebten?«
Firbis zögerte und nickte.
»Und wo war der an jenem Tag?«
»Anscheinend bei Sochla.«
Fidelma machte angesichts dieser neuen Enthüllung große Augen. »Und Sochla? Was sagte sie?«, fragte sie erstaunt.
|115| »Dass sie mit der Arbeit anfing, nachdem der König und sein Gefolge fortgegangen waren, und dass dann ihr Liebhaber gekommen sei. Dass sie einige Zeit miteinander verbracht hätten …«
»Hatte sie die Schatulle währenddessen ständig im Blick?«, unterbrach Fidelma ihn.
Firbis zwinkerte und hielt einen Augenblick inne, ehe er antwortete.
»Die Schatulle stand an einem Ehrenplatz im Festsaal, auf einem Sockel hinter dem Thronsessel des Königs. Sochla behauptete, dass sie sie wohl etwa eine Stunde nicht im Blick hatte.«
»Also könnte jeder in den Saal gegangen sein und sie gestohlen haben.« Fidelma verzog den Mund. »Die Anklage gegen die junge Frau scheint mir
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