Todesfee
sagte dann leise: »Eine Ungerechtigkeit bei der Zurückweisung einer Aussage bedeutet nicht notwendigerweise, dass das Gesamturteil in diesem Fall falsch war. Jedenfalls nicht, wenn man es hinsichtlich der Verfehlungen betrachtet, die zu einem Makel am Charakter des Brehon führen könnten. Wenn ich darauf bestehen würde, könnte ich dann noch weitere Enthüllungen erwarten?«, fragte sie den
druimcli
plötzlich und mit scharfer Stimme.
|124| Brehon Morann hüstelte. »Wir müssen heute noch einige andere Studenten prüfen, Fidelma. Ich glaube, das reicht nun.«
»Dann wollt ihr jetzt ein Urteil von mir hören?«, fragte Fidelma leise und mit gesenktem Kopf. »Ich habe nicht das Gefühl, dass man mir genug Zeit gegeben hat, mich mit dem Fall vertraut zu machen.«
Brehon Morann seufzte und atmete hörbar aus.
»Fidelma, heute ist der Tag deiner Abschlussprüfung. Das Ergebnis dieser Prüfung entscheidet, ob du den Grad eines
dos
erlangst, den niedrigsten juristischen Grad. Wer diese Prüfung besteht, kann mit seinen Studien fortfahren und nach sechs bis acht Jahren den Titel eines
ollamh
erlangen, der es erlaubt, den Hochkönig selbst zu beraten und noch vor ihm ein Urteil abzugeben. Doch wer die schnellste Hand hat, dem sollen bei der Jagd der weiße Hund und der Hirsch zufallen. Also lass dich an bestimmte Tatsachen erinnern.«
Brehon Morann legte eine Pause ein und blickte sie durchdringend an.
»Bestimmte Tatsachen?«, murmelte Fidelma und versuchte sich zu konzentrieren.
»All das wusstest du und bist doch zu spät zur Prüfung gekommen. Hast du eine Entschuldigung dafür vorzubringen?«
Fidelma zögerte den Bruchteil einer Sekunde und sagte dann: »Es gibt keine Entschuldigung.«
»Du bist hierhergekommen, und anstatt auf die Fragen, die man dir stellte, zu antworten, hast du einem
druimcli
, jemandem, der den siebten und höchsten Grad der Weisheit erreicht hat, Gegenfragen gestellt … und das in einem gestrengen und beinahe verdammenden Ton. Wir wollen es einmal so formulieren, Fidelma: Du hast es nicht gerade darauf angelegt, hier einen guten Eindruck zu machen. Doch liegt die Entscheidung, ob du den Grad eines
dos
erlangst, allein in unseren Händen.«
|125| Fidelma errötete. »Ich dachte nicht, dass man einen Grad erlangt, indem man einen guten Eindruck macht. Ich dachte, es hinge davon ab, wie mein Wissen über das Recht eingeschätzt wird«, bemerkte sie ruhig.
»Über das Recht und über deine Fähigkeit, es anzuwenden. Hast du das Gefühl, das Wissen unter Beweis gestellt zu haben, das nötig ist, um den Fall zu beurteilen, der dir vorgelegt wurde?«, antwortete Morann in unverändert strengem Ton.
»Ein weiser Richter hat mir einmal gesagt, dass man kein Urteil fällen sollte, wenn man nur die Geschichte der einen Seite gehört hat, sondern dass man warten sollte, bis man auch die der anderen Seite kennt.«
Brehon Morann schaute sie belustigt an. »Versuchst du jetzt, einen guten Eindruck zu machen, indem du mich zitierst?«
»Keineswegs. Was wahr ist, bleibt wahr, ganz gleich, welcher Mund es ausspricht.«
»Du sagst also, dass du dir kein Urteil hast bilden können?«, fuhr der
druimcli
dazwischen.
Fidelma wandte sich zu ihm und schüttelte den Kopf. »Ich kann in diesem speziellen Fall, der mir heute vorgelegt wurde, kein Urteil fällen, sehr wohl aber das Urteil einschätzen, das der Brehon in diesem Fall gesprochen hat.«
Mit einem leisen Lächeln lehnte sich
druimcli
Firbis in seinem Stuhl zurück und machte mit einer Hand eine einladende Geste.
»Du hast die Wahl – zwischen
firbrith
, einem richtigen Urteil, und
cilbrith
, einem falschen.«
»Ich sage, dass das von dem Brehon gesprochene Urteil ein
cilbrith
war, ein falsches Urteil. Ich glaube auch,
druimcli
, dass der Makel an dir haftet, denn du warst der Brehon.«
Firbis’ Augen verengten sich eine Spur. »Wie kommst du darauf?«
|126| »Du verfügst über ein außergewöhnlich gutes Wissen darüber, warum der Richter bestimmte Dinge tat. Ich ziehe auch die Art und Weise in Betracht, wie du die Aussagen ausgewählt hast, die du mir zur Kenntnis brachtest, stets zu Gunsten des Richters. Du hast wiederholt gezeigt, dass du den Brehon in Schutz nehmen wolltest. Das liegt, wie ich schon gesagt habe, daran, dass du selbst der Brehon warst.«
Druimcli
Firbis lächelte. »Glauben ist kein Beweis.«
»Nein. Aber du bist
druimcli
in Ardagh, der wichtigsten Stadt in Tethbae, wo deinen Worten zufolge der Fall verhandelt
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