Todesfinal
sein ungekämmtes, dünnes Haar. »Du bist heute früh da«, sagte er.
»Ich konnte nicht schlafen. Die Kopfschmerzen.«
»Ach ja, die Kopfschmerzen.« Der Graue äffte Morlovs Stimme nach. »Immer deine Kopfschmerzen, es ist nicht zum Aushalten.«
Morlov sagte nichts. Er stand nur da und spürte, dass die Kälte unter seine Trainingsjacke kroch.
»Wie weit bist du?«, fragte der Graue.
»Ich arbeite daran.«
Der Graue hielt seinen Hut in der Hand, schlug sich dann damit auf die Knie. »Du arbeitest daran, das ist alles?« Dann schüttelte er heftig den Kopf. Umständlich setzte er seinen Hut wieder auf. »Das ist nicht sehr hilfreich, dass du dir nicht mehr Mühe gibst, Simon. Nicht sehr hilfreich.«
»Ich gebe mir Mühe. Aber es geht nicht so schnell.«
Der Graue sah ihn nachdenklich an. Auf einmal wandte er den Blick ab, sah nach links, dann nach rechts. Er schnüffelte wie ein Hund in der Luft, blickte dann zu Morlov.
Jetzt spürte es auch Morlov. Als hätten sich die Spannungszustände der Luftmoleküle einen Hauchbreit verändert. Eine kribbelnde Elektrizität war in der Luft und Morlov fühlte die Kälte nicht mehr, die sich unter seine Haut bis in die Knochen fraß.
»Du musst vorsichtig sein«, sagte der Graue. »Du musst immer auf der Hut sein.«
Morlov blickte nach rechts, zu den Bäumen, aber immer noch hing ein Dunstschleier in der Luft, der alles zu einem einzigen Grau verschwimmen ließ. Dann sah er wieder zu dem abgesägten Baumstamm, auf dem der Graue gesessen hatte. Doch der war verschwunden.
Morlov ließ sich auf den Bauch fallen und presste sich mit seinem Körper gegen den Boden. Es war keine Sekunde zu spät. Das »Plop« eines Gewehrs mit Schalldämpfer war zu hören, dann zischten Schüsse über ihn hinweg. Morlov wartete, zählte bis drei, dann schnellte er hoch und rannte auf die Bäume hinter dem abgesägten Baumstamm zu.
Jetzt musste es wieder so weit sein. Morlov machte eine abrupte Bewegung nach links und der Schuss knallte an ihm vorbei. Noch ein paar Meter, dann hatte er den Wald erreicht. Morlovs Füße trafen auf den weichen Waldboden und er rannte weiter, bis ihn die Bäume und der Morgennebel verschluckten.
Bevor Morlov duschte, überprüfte er die Fenster und Türen seines kleinen Hauses. Morlov lebte in einem kleinen Dorf in der Fränkischen Schweiz, das aus bestenfalls zehn Häusern bestand. Die Hälfte der Bewohner waren Bauern, die anderen hatten einen Arbeitsplatz in einer größeren Stadt in der Nähe, meistens in Nürnberg, und hatten sich hier ihren Traum vom Häuschen im Grünen verwirklicht. Rings um den Ort war dichter Wald, es gab nur eine kleine Straße, die durch das Dorf führte.
Morlovs Fenster und Türen waren gesichert. Hier würde niemand reinkommen, ohne dass er das bemerkte.
Morlov duschte sich, seine Pistole immer in Griffweite. Der Killer würde nicht aufgeben, er hatte ihn oben am Felsen verfehlt, aber wenn er ein Profi war, würde er so lange weitermachen, bis er seinen Auftrag erfüllt hatte.
Nachdem sich Morlov abgetrocknet und angezogen hatte, kochte er sich einen Kaffee. Er setzte sich an den Küchentisch, trank hin und wieder einen kleinen Schluck des heißen Getränks und wartete.
Nach einer halben Stunde klingelte es. Morlov ging ans Fenster und sah hinaus. Von hier aus konnte man den Platz vor der Haustür gut überblicken. Er sah einen jungen Mann in einer blauen Adidas-Trainingsjacke, der ungeduldig auf den Klingelknopf drückte. Morlov schätzte ihn auf höchstens fünfundzwanzig Jahre. Er konnte es nicht fassen. Der Kerl da draußen hatte mindestens dreißig Kilo zu viel auf den Rippen. Das war eine Beleidigung. Die schicken mir einen fetten Anfänger, dachte er. Einen Amateur, dessen Fettwülste bei jeder Bewegung hin und her schlabberten. Glaubten die, dass Morlov inzwischen Altersrheuma hatte und sich nicht mehr bewegen konnte?
Morlov stand auf und ging in den Flur. Er hatte die Hand in der Jackentasche, die Pistole fest im Griff. Er stellte sich so, dass er bei einem Angriff sofort ausweichen konnte. Dann öffnete er mit einer schnellen Bewegung die Tür.
Der Dicke vor ihm war einen Moment überrascht. Dann hielt er Morlov eine Plastikkarte mit seinem breiten Gesicht vor die Nase. »Mark Klöpper. Ich bin vom Bayerischen Rundfunk. Ich möchte es kurz machen. Ich habe mit den Nachbarn gesprochen, und ich bin sicher, dass Sie ein nicht angemeldetes Fernsehgerät besitzen. Ich könnte Ihnen jetzt ’ne saftige Strafe
Weitere Kostenlose Bücher