Todesflirt
aufhalten, damit er in den Sonnenschein treten konnte. Und ich schwor mir, die Tür, und sei sie noch so schwer, für ihn aufzuhalten.
Weitere Buchstaben krochen aus seinem Mund. Leise, unsicher, aber dann kraftvoller, lebendig.
»Ich hab früher viel mit Typen abgehangen, die auf Randale aus waren«, sagte er. »Einfach so. Aus Langeweile. Ich hab meine Ausbildung zum Schreiner in einer Kleinstadt gemacht, in der Nähe von Hamburg. Und da gab es am Wochenende oder abends – da gab es einfach nichts, was man machen konnte. Da haben wir halt Bier gesoffen, Schnaps, Wodka, was halt grad greifbar war. Na, und wenn uns dann einer dumm kam, weil er die falsche Frisur hatte oder ’ne dicke Lippe riskierte – dann haben wir eben zugeschlagen.«
»Du auch?«, fragte ich zögerlich. Ich wollte es wissen!
»Manchmal. Nicht so oft wie andere. Aber manchmal schon. Wenn der Frust zu groß war. Was weiß ich, wenn der Meister gemeckert hat, ich hätt nicht sauber genug gearbeitet oder so. Und dann – nach ein paar Bier – da bin ich dann hin und wieder ausgetickt. Hab einfach das Denken ausgeknipst und ab ging’s.« Ich nahm seine Hand, hielt sie vor das Fenster, hinter dem es langsam dunkel wurde, und betrachtete die dunklen Umrisse seiner Finger. Diese eben noch so zärtlichen Hände.
»Ich kann mir das nicht vorstellen«, sagte ich.
Er sah mir ins Gesicht. »Ich mir auch nicht mehr«, sagte er. »Meistens. Aber wenn ich in so eine Situation gerate … wo körperliche Gewalt …« Er blickte zur Decke hoch. »Ich kann dann meist nur abhauen. Weißt du, da ist in meinem Kopf Leere, kein Gedanke dockt dann irgendwo an. Alles nackt. Wie in der Wüste. Und dann hau ich ab. Bevor ich zuhau. Ganz schnell. Bist du sauer?«
Langsam schüttelte ich den Kopf. Ich war es wirklich nicht. Ich erzählte ihm, wie die Polizei auf die Prügelei reagiert hatte. Wie entsetzt ich war.
»Ja«, sagte er. »Das kenn ich auch. War bei uns auch so. Wenn wir rechtzeitig abgehauen sind, ist uns keiner nach. War denen egal. Und wenn am nächsten Tag in dem Käseblättchen da stand, Jugendliche hätten sich eine Rauferei geliefert, dann waren wir richtig stolz drauf. Wow – wir standen in der Zeitung.«
»Wie alt warst du da?«
»Na, so 16, erstes Ausbildungsjahr. Irgendwann haben sie mich aber dann doch mal gekriegt, dann hab ich so ein Antiagressions-Training mitgemacht. War ganz gut. Hab ich viel gelernt.«
»War also nur eine Phase?«
»Ja, klar.«
»Und aus der Zeit stammen auch deine Narben?«
Ganz kurz nur kniff er die Augen ein wenig zusammen.
»Mh. Genau.«
Ich befühlte die wulstige Stelle auf seinem Rücken.
»Erzähl mir davon.«
Er drehte sich so, dass ich die Narbe nicht länger berühren konnte.
»Ach, völlig langweilig. Außerdem will ich diese Zeit nicht verklären mit irgendwelchen Heldenanekdoten.«
Fast schämte ich mich. Einerseits verabscheute ich Gewalt, andererseits wollte ich ihn in meinem tiefsten Innern wohl doch als so eine Art strahlender Held sehen. Das ging natürlich gar nicht.
»Hast recht«, sagte ich schnell.
»Was machen wir denn jetzt wegen Max?«, fragte er nach einer Weile. Ich zuckte mit den Schultern.
»Ignorieren?«
»Keine gute Idee«, widersprach er. »Ich hab ein schlechtes Gefühl bei dem. Wer weiß, was er sich noch alles ausdenkt.«
Ein Schauer überlief meinen Rücken. Ich kuschelte mich enger an David.
»Vielleicht bleibst du heute Nacht erst einmal hier«, schlug er vor und dieses Angebot nahm ich dankbar an – auch wenn ich wusste, dass es am nächsten Morgen mit langem Ausschlafen und gemütlichem Frühstück nichts werden würde. Es war Samstag und ich hatte meiner Mutter versprochen, in der Gärtnerei mitzuhelfen, weil Frau Deller, eine ihrer Angestellten, freihatte.
Wie im Fieber arbeitet er. Er hätte nicht gedacht, dass sich so viele gute Möglichkeiten ergeben. Es ist eine Art Fernfolter, die er betreiben wird. Lautlos, effektiv und mit dem großen Vorteil, dass der Verräter nicht ahnt, wann er das nächste Mal auf die Streckbank gelegt wird, wann sich die Daumenschrauben noch ein wenig enger zudrehen. Der Verräter weiß nur, dass er sich nicht entziehen kann. Denn er hat keine Ahnung, wie er ihn stoppen soll. Beinahe hätte er ihn neulich abends entdeckt. Aber er war schneller. Der Verräter weiß schließlich noch gar nicht, dass er da ist. Ein gutes, wohliges Gefühl.
Wenn es all diese Möglichkeiten schon früher gegeben hätte, dann sähe die Welt jetzt
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