Todesflirt
»Er hat vermutet, dass ich etwas gegen ihn in der Hand habe. Er wusste nur nicht, was. Er hat angefangen, Luisa zu bedrohen. Er wollte, dass sie ihm verrät, wo ich bin. Er hat gedroht, sie umzubringen, sie totzuprügeln, wenn sie nichts sagt. Sie blieb standhaft. Stattdessen hat sie mir die Karte geschrieben. Sie war die Einzige, die wusste, wo ich bin. Scheiße – sie ist meine Zwillingsschwester! Egal was war, sie hat immer zu mir gehalten. Auch als ich …«
»Was?« Er schloss die Augen, legte den Kopf schief, zog mich an sich.
»Ich musste nach Hamburg. Meine Schwester beschützen. Ich musste mit ihm reden. Das war natürlich ein Fehler, klar. Ich war so … so außer mir – dass ich ihm gedroht habe, ich gäbe den Film der Polizei. Er hat natürlich gesagt, dass ich dann ein toter Mann sei, aber ich hab ihn nur ausgelacht. Ich hab gedacht, dafür muss er mich erst mal finden. Ich habe ihn unterschätzt! Einmal mehr! Und du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich dafür hasse. Weißt du, das hier – das mit uns, mit deiner Familie –, das war wie ein Traum. Aber wie ein Traum, aus dem ich immer wieder geweckt wurde, der keinen Bezug zu meiner Realität hatte. Ich konnte die beiden Welten einfach nicht zusammenbringen. Deswegen musste ich immer wieder abtauchen. Das war einfach zu viel. Und als er dann hier auftauchte, als mir klar wurde, dass er meine Spur aufgenommen hatte, seit ich aus Hamburg zurückgekehrt war – da konnte ich gar nicht mehr richtig denken. Vor allem als ich gemerkt habe, dass er nicht nur mir Angst machen will, sondern dir auch. Ich hätte dich wegschicken müssen – aber das hab ich einfach nicht gepackt.«
Ich konnte nur den Kopf schütteln. Was war das hier? Ich saß mit einem völlig fremden Menschen, den ich für meinen Freund gehalten hatte, auf seinem Bett und wir redeten über Doppelleben und darüber, wer wen abgemurkst hatte, und wir redeten nicht über den Sonntagabend-Krimi. Ich musste heute Morgen in einem Parallel-Universum aufgewacht sein. Ein Universum, das sich einige Hundert Mal schneller drehte als die Erde. Zumindest war die Konfusion in meinem Kopf entsprechend. Immerhin fiel mir ein, das T-Shirt auszupacken, das ich heute Morgen in meinem Rucksack verstaut hatte.
»Und wo kommt das her?«, fragte ich und breitete es vor ihm aus. Er schüttelte langsam den Kopf, murmelte »Gibt’s nicht« und fuhr mit den Fingern über die leicht erhabenen Schriftzüge.
»Ich habe versucht, Thor zu finden, als ich gemerkt habe, dass er hinter mir her ist. Ich bin auf so ein Scheiß-Konzert gegangen, weil mir klar war, dass ich ihn da am ehesten treffen könnte. Am Eingang haben sie jedem so ein T-Shirt in die Hand gedrückt, ich hab gar nicht drüber nachgedacht, zumal es ja schneeweiß war.«
»Und hast du ihn getroffen?«
»Ja, kurz nur. Er sagte, er will den Film, sonst hätten wir nichts zu reden. Ich sagte, er wird ihn nicht bekommen, das könne er sich abschminken. Dann bin ich abgehauen.«
»Thor ist ein Nazi, oder?« Die Frage glich mehr einer Feststellung. David hob nur die Augenbrauen.
»Und du hast ihn und seinesgleichen gejagt, oder?« Wieder eine Feststellung.
Die Trommelrhythmen wirbelten durch den Raum. Ich fischte das Handy aus der Hosentasche. Meine Mutter, na gut.
»Mama?«
»Tabea – weißt du, wo Juli ist?« Ich spürte, wie sich mir der Hals zuschnürte.
»Nein. Ist sie nicht zu Hause?«
»Sonst würde ich dich kaum anrufen. Der Schulbusfahrer hat gesagt, er hat sie ganz normal um halb drei bei uns vorm Haus an der Haltestelle aussteigen lassen. Jetzt ist es nach vier – und sie ist immer noch nicht da.«
»Scheiße!«, entfuhr es mir und ich suchte Davids Blick. »Was sagt Annika?«
»Die weiß auch nichts!«
»Ich komm sofort!«
Das Gewimmer geht ihm auf die Nerven. Kann die Schwachsinnige nicht ruhig sein? Er zerrt sie hinter sich her, hastig, nun doch etwas nervös. Immer wieder stolpert sie über Wurzeln, bleibt an den Ranken widerborstiger Beerensträucher hängen, schreit auf, als sich ihrer Wade eine Brennnessel in den Weg stellt. Durch das Unterholz kann er die Schutzhütte endlich erkennen. Sie wirkt noch verfallener als bei seinem ersten Besuch. Er hat lange nach ihr gesucht. Er weiß, dass sie perfekt ist. Kein Spaziergänger, kein Hund, der sich hierher verirrt, mitten ins Nirgendwo des Ebersberger Forstes. Er umklammert ihr Handgelenk und zieht sie einfach weiter. »Schnauze«, entfährt es ihm, aber sie wimmert trotzdem.
Weitere Kostenlose Bücher