Todesflirt
Er bleibt stehen, dreht sich um und schlägt ihr mit der Rückseite der Hand ins Gesicht. Die Brille fällt herunter. Schockstarr reißt sie die Augen auf, dann ein hoher, durchdringender Schrei. Er weiß, dass sie niemand hören kann. Dennoch tritt er nun hinter sie, hält ihr die Hand vor den Mund, schiebt sie vor sich her. Er versucht, nicht auf den Speichel zu achten, der an seinen Fingern klebt.
»Ruhig«, zischt er ihr ins Ohr. »Ganz ruhig. Spiel mit und es passiert dir nichts.« Es ist ihm egal, ob er überzeugend klingt. Hauptsache, sie hält das Maul. Endlich erreichen sie die Hütte. Mit dem Fuß stößt er die Tür auf. Im Inneren tanzen ein paar Staubflocken in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen im Holz hineindringen. Er schubst sie vor sich her, sie fällt zu Boden und jammert erneut. Er gibt ihr einen Tritt, sie verstummt. In Ruhe holt er nun das Tapeband aus dem braunen Feldrucksack seines Großvaters. Das kühle Metall der Pistole streift seinen Handrücken. Er schneidet ein Stück Klebeband ab, zieht sie an den Haaren ein wenig nach oben und drückt ihr dann den Streifen auf den Mund. Das Weiß ihrer weit aufgerissenen Augen tritt in dem Dämmerlicht dämonisch hervor. In alten Zeiten wäre sie sicher als Hexe verbrannt worden. Er spürt, wie er wieder ganz ruhig wird. Sein Plan ist richtig und gut. Er schubst sie an einen wackeligen, klobigen Holztisch, drückt sie auf einen grob gezimmerten Stuhl hinunter. Ehe sie auch nur begreift, was passiert, hat er ihre Arme hinter die Stuhllehne gedrückt und fixiert sie mit Kabelbindern, die Füße ebenfalls. Ohne sie noch einmal anzuschauen, verlässt er den Raum, schließt die Tür, sodass es beinahe völlig dunkel dort drin ist.
Im Eilschritt hastet er den Waldweg entlang, bis er endlich an den Parkplatz gelangt, wo er das Auto abgestellt hat. Er versucht, ihren Gesichtsausdruck aus seinem Gedächtnis zu vertreiben – jenen Moment, als ihr klar wurde, dass hier in diesem Wald nicht Annika auf sie warten würde. Sondern etwas anderes. Etwas Bedrohliches. Er atmet tief durch und fährt los. Ein paar Kilometer weiter wird er schon wieder Handyempfang haben.
Wir hatten die Gärtnerei beinahe erreicht. Ich hatte das erste Mal in meinem Leben einen Taxifahrer beschworen, so schnell wie möglich zu fahren. David saß in sich zusammengesunken hinter mir und sprach kein Wort. Uns war beiden klar, wer allein hinter Julis Verschwinden stecken konnte. Wir passierten gerade den Riemer Friedhof, als mein Handy erneut klingelte. Ein unbekannter Anrufer.
»Keine Eltern. Keine Polizei. Du und er. Mit dem Handy, auf dem der Film ist. Und keine Tricks. Wenn ihr nicht kommt, ist sie tot. Wenn der Film irgendwo auftaucht, seid ihr tot. In einer Stunde sage ich euch, wo ihr hinkommen sollt. Bis dahin habt ihr das Handy bei euch.«
Es knackte in der Leitung, Torstens scharfe Stimme war fort.
»Halten Sie an, bitte, sofort«, schrie ich den Taxifahrer an, der erschrocken eine Vollbremsung hinlegte. Bremsenquietschen hinter uns, Hupen. Er fuhr an die Seite, ich bezahlte mit meinem letzten Geld und wir stiegen aus. Ich drängte David in Richtung der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. Dort wiederholte ich, was Torsten gesagt hatte.
»Wir müssen ihm den Film bringen – er hat Juli!« David ballte die Händen in den Jeanshosentaschen zu Fäusten.
»Wo hast du ihn?« Sein Brustkorb hob und senkte sich. Wenigstens war der Bus heute einmal pünktlich! »Wo ist er?«, wiederholte ich, während wir einstiegen. Wir setzten uns ganz nach hinten.
»In einem Schließfach am Ostbahnhof«, sagte er endlich. »Sollen wir ihn nicht einfach dort lassen und uns so mit ihm treffen? Wir schaffen es bestimmt, Juli zu befreien.« Ich lachte entrüstet auf.
»Du hast mir doch von einer Pistole erzählt – schon vergessen?« Ich spürte Panik in mir aufkeimen. Ich spürte, wie die Schutzdecke meines Lebens nach unten rutschte, in den Abgrund, unaufhaltsam. Schwarze Flecken sprangen vor meinen Augen.
»Aber wenn er den Film hat …« David brach ab.
»Dann lässt er dich vielleicht in Ruhe. Dann kannst du zwar den Mord nicht mehr beweisen, aber du kannst ein neues Leben anfangen.« Das Wort »Mord« hatte ich kaum geflüstert.
»Das sagst du so einfach.« Er stierte aus dem Fenster. Dort vorne erschien die Haltestelle, die zur U-Bahn hinunterführte.
»Wenn dir klar war, dass dein Leben in Gefahr war – wieso hast du den Film nicht gleich vernichtet?«
»Ich
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