Todesflirt
einigen Klicks hatte ich den Film gefunden. Er war unter »R« abgespeichert. Hinter dem R war ein Kreuz. Ich fügte ihn an meine Nachricht an und versendete ihn an mich und Annika. Dann öffnete ich ihn erneut, um ihn anzuschauen.
Die Bilder waren ziemlich verwackelt, der Ton rauschte, unterbrochen von abartigem Geschrei und wildem Getrampel. Zunächst sah man nur schwarz vermummte Gestalten. An ihren dunklen Jacken prangten vorwiegend rot-weiße Embleme und Symbole. Ich erkannte Hammer und Sichel, eine Faust, die ein Hakenkreuz zerschmetterte – ganz klar, hier waren Linksextreme zugange. Sie kamen schnell näher, die Kamera schwenkte rasch hin und her, nun sah man, wie sich die ersten Autonomen oder was das waren, auf ihre Gegner warfen – zum allergrößten Teil kahl rasierte Bulldog-Typen mit Springerstiefeln und Nazisymbolen – ganz klassisch. Hiebe, Tritte, Schläge gingen hin und her, das Geschrei war widerwärtig. »Linke Sau« war zu hören, aber auch »Nazis raus«. Die Kamera tat einen heftigen Ruckler, schwenkte nun unkontrolliert, die Perspektive verrutschte, alles war vom Boden aus zu sehen, als sei der Filmende hingefallen. Im Hintergrund erkannte man ein brennendes Auto. Ein Gesicht kam groß ins Bild. Ein Typ mit einer Glatze in einem ärmellosen Tankshirt mit Totenkopf und einem »Combat-18«-Schriftzug darüber, ein Reichsadler auf den Oberarm tätowiert. Seine türkisblauen Augen starrten geradewegs in die Kamera.
»Bist du okay?«, schrie er und wurde aus dem Bild geschubst. Ich hatte vergessen zu atmen. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich spulte zurück. David sah weiter hinaus in die U-Bahn-Röhrenfinsternis. Als kenne er mich gar nicht.
»Bist du okay?«, schrie er wieder in dem Film und verschwand. Keine Frage! Das hier war David! David, der eigentlich Malte hieß und ein Nationalsozialist war. Ich starrte unbeweglich auf den Film, der gnadenlos weiterlief. Der Typ mit der Kamera versuchte wohl aufzustehen, als ein weiterer, noch massiverer Ruck durch das Bild ging. Man hörte Stöhnen, sah plötzlich Springerstiefel, die ausholten und zutraten. Ein Schrei, direkt neben der Kamera. Fäuste, die losschlugen, Totenkopfringe daran. Sie droschen wohl in ein Gesicht, das Bild war zeitweilig schwarz, aber der Ton erzählte eine Geschichte, die ich mir nie zu hören gewünscht hatte. Endlich hörten die Tritte, die Schläge auf, das Stöhnen wurde leiser, nur rasselndes Atmen war zu hören. Dann wieder ein Gesicht. Ein hämisches Grinsen breit darin thronend. »So ergeht’s eben Verrätern, du Abschaum!«, sagte er mit eiskalter Stimme. Der kleine Hammer an der Kette um seinen Hals schlug beinahe gegen die Kamera, die nun seitlich wegrutschte. Das Atmen wurde immer leiser, schwarzer Asphalt, eine Bordsteinkante. Dann erlosch das Bild. Das Handy fiel aus meiner Hand auf den Boden. Ich wagte nicht, David anzuschauen. Er sah bewegungslos geradeaus. Mühsam hob ich das Handy auf.
»Bitte aussteigen, Endstation. Bitte alle aussteigen«, schreckte uns der U-Bahn-Fahrer hoch. Ich schaffte es bis zum Papierkorb neben der Bank auf dem Bahnsteig. Dann erbrach ich mich, bis nur noch Galle kam. David stand versteinert neben mir. Ich richtete mich auf und trommelte mit Fäusten auf seinen Brustkorb.
»Du Nazi, du Scheiß-Nazi«, schrie ich ihn an.
Eine alte Türkin mit ihrem Einkaufswägelchen riss erschrocken die Augen auf und ging mit viel Abstand an uns vorbei bis zum anderen Ende des Bahnsteigs. Meine Schreie gingen in Schluchzer über, meine Fäuste erlahmten, ich spürte kaum, wie er mich am Handgelenk packte und in Richtung Rolltreppe schob.
Wir waren noch nicht ganz oben angekommen, das harte Sonnenlicht blendete uns bereits, da klingelte mein Handy. Ich zog die Nase hoch und ging dran.
»Wo seid ihr jetzt?« Seine Stimme ließ mich frösteln.
»Endstation Messestadt-Ost«, sagte ich mit einer Automatenstimme.
»Sehr gut. Ihr nehmt den Bus 228 nach Aschheim, dort steigt ihr den 285er Richtung Haar um. Ich rufe euch unterwegs an, an welcher Haltestelle ihr aussteigen sollt. Wenn irgendwo Polizei auftauchen sollte, stirbt deine Schwester. Falls wir nicht rechtzeitig bei ihr sind, geht eine Bombe hoch. Verstanden?«
Das Handy lag in meiner schweißnassen Hand und ich betrachtete es, als sei es das Trümmerstück eines Ufo. Mühsam berichtete ich David, was zu tun sei. Der 228er-Bus fuhr gerade an der Haltestelle ein und wir bestiegen ihn schweigend. Laut Fahrplanauskunft brauchte er nur
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