Todesformel
Ruhe. Ich habe Meret Platens weißes Gesicht vor Augen, oval mit großen hellen Augen. Sie sollte in diesem labilen Zustand nicht allein sein. Vielleicht wäre sie in Untersuchungshaft gut aufgehoben gewesen. Ich war noch nie auf ›Holsten‹. Meret Platen wohnt dort anscheinend allein in dieser Orangerie, so nannte man doch früher die Pflanzenhäuser bei den Schlössern, den Loire-Schlössern, zumindest jenen aus der Zeit des Sonnenkönigs; eben weil dort drin Orangenbäume überwintert wurden, nehme ich an. Sie wirkte so benommen, als hätte sie eine große Dosis ›Valium‹ intus. Blödsinn, ich rufe mich zur Vernunft. Genau das hätte diese Frau Dr. Wadel festgestellt. Falls sie nun doch etwas geschluckt hat, wer sieht zu, dass sie es nicht wieder tut? Plötzlich bin ich mir sicher, da stimmt etwas nicht.
Schon suche ich im Telefonbuch, stelle Meret Platens Nummer ein, zehn nach Mitternacht, lasse das Telefon klingeln – zehn-, zwanzigmal –, da ist nichts. Auf ›Intertel‹ suche ich Sven Dornbiers Privatnummer. Er ist da. Ich frage nicht, ob er schon schläft. Auch nicht, ob er allein ist. In zehn Minuten werden wir uns treffen.
Ein Blick in den Spiegel, rasch den Kamm, den Lippenstift. ›Lumberjack‹, flache Schuhe, Tasche, Schlüssel, rasch einen Blick in Noëls Zimmer. Ich lausche auf seinen ruhigen Atem. Moshe trottet mir schwanzwedelnd nach. Im Korridor lasse ich das Licht brennen, Wohnungstür schließen, Dauerbeleuchtung in Treppenhaus und Eingang einstellen. Der Tank des ›Jeeps‹ ist mehr als halb voll.
Zwei lange Straßen weiter steht Sven schon an der vereinbarten Straßenecke, das Handy am Ohr. »Nichts, sie nimmt nicht ab.« Möglicherweise hat sie einfach genügend Schlafmittel genommen. Sven stellt die Nummer ›Platen-Alt‹ in Hochberg ein. Frau Platen-Alt ist am Telefon, doch sie und ihr Mann befinden sich gar nicht auf ›Holsten‹, sie sind im Stadthaus, der Anruf werde jeweils umgeleitet. Sie ruft die Einsatzstelle der Polizei an, um die Handynummer bestätigen zu lassen, eine Sicherungsmaßnahme, ruft zurück, gibt uns die Nummer des portugiesischen Hausangestelltenpaars, Da Silva. Sie ruft sie jedoch selbst an, damit das Tor offen steht.
Ich fahre schnittig, habe das Gefühl zu fliegen, nachts sieht man andere Fahrzeuge von Weitem. »Zehn zu schnell«, Svens trockene Stimme erschreckt mich, meint er es ernst, ausgerechnet er, ausgerechnet jetzt. Ich nehme eine Buße in Kauf oder ich werde sie anfechten. Er braucht mir nicht zu sagen, dass Wildtiere unterwegs sind; im ›Jeep‹ sitze ich hoch, habe einen weiten Sichtwinkel auf die Straße. Ich halte das Steuer fest, für alle Fälle, fahre konzentriert: auf keinen Fall das Gas zurücknehmen, wenn es denn knallt, Steuer festhalten, sorgfältig abbremsen, ja nicht ausweichen. Heute Nacht sehen alle Straßenböschungen unglaublich wildfreundlich aus, ich fühle meine Kiefer, mein Herz scheint vorauszufliegen, irgendwie fühle ich mich gut.
Das Tor von ›Holsten‹ steht offen, eine beleuchtete Auffahrt, ein runder Kiesplatz liegt in weißem Scheinwerferlicht, ebenso die Front eines weißen Hauses – eine Alarmbeleuchtung. »Ja, eine Autotaschenlampe liegt im Handschuhfach.« Da Silva, er muss es sein, kommt aus der Haustür, ein vierschrötiger Portugiese im Trainingsanzug. Sven zeigt seinen Ausweis, Polizei, wir wollen bloß nachsehen, ob bei Frau Meret Platen alles in Ordnung ist. Da Silva hat auch die Schlüssel zur Orangerie. Wir lauschen auf das Klingeln im Innern, nichts. Wir klopfen an die festen Fensterläden. Nichts. Da Silva öffnet, Sven Dornbier reißt ihn zurück: »Kein Licht machen, Vorsicht!« Ich rieche den durchdringenden Geruch, Rauchgas eines Holzofens? – Falls es echtes Gas ist, darf kein Funke springen. Wir gehen ein paar Meter zurück, weg von der Tür. »Wo ist das Schlafzimmer?« Schon läuft Sven ins Haus, mit meiner Taschenlampe. Ich atme tief ein, laufe mit ihm. Das Schlafzimmer ist nicht versperrt, ein Bett. Frau Platen liegt im Bett, schläft, die Hände auf der Steppdecke, erwacht nicht. Sven drückt mir die Lampe in die Hand, reißt die Frau hoch, hebt sie auf die Arme, scheint zu taumeln. Ich reiße mit immer noch angehaltenem Atem das Fenster auf, stoße die Fensterläden nach außen, steige auf den Fenstersims, steige hinaus, er ist nicht hoch. Da ist auch Da Silva. Gemeinsam hieven wir die bewusstlose Meret Platen zum Fenster hinaus.
Meine rechte Hand schmerzt, doch ich kann sie unter
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