Todesfracht
augenblicklichen körperlichen und gesundheitlichen Zustand nicht, daher müssen wir mit allem rechnen und flexibel reagieren. Drittens ist der Vulkan oberhalb unseres Zielortes in etwa genauso stabil und zuverlässig wie die geschlossene Abteilung des Bellevue. Das zusammen mit dem Sturm, der uns im Nacken sitzt und nur darauf wartet, sich auszutoben und sein Mütchen an uns zu kühlen, bedeutet, dass hier das Tempo von entscheidender Bedeutung ist. Wir gehen so schnell rein und wieder raus wie irgend möglich. Ich werde das Schiff oder die Mannschaft auf keinen Fall aufs Spiel setzen, wenn sich absehen lässt, dass die Zeit für uns zu knapp wird.
Ich will hier nicht Heinrich V. bei Agincourt oder Admiral Nelson vor der Schlacht spielen. Jeder von euch kennt seine Pflichten und weiß, dass sich jedes andere Mannschaftsmitglied auf ihn verlässt. Wir stehen einer für uns ungewöhnlichen Situation gegenüber. Dieser Job geht weit über das hinaus, wofür wir engagiert wurden. Hier geht es nicht länger um Piraten, die Schiffe im Japanischen Meer plündern. Sondern um Schmuggel mit dem wertvollsten Gut auf Erden: Das ist menschliches Leben. Wir sind nicht hier, um unsere Taschen mit einem möglichst fürstlichen Honorar zu füllen, sondern als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft ist es unsere Pflicht, aufzustehen und zu denen zu gehören, die an das glauben, was richtig ist.
Alle von euch haben Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und gewusst, dass dieser Augenblick irgendwann kommen würde.
Nun ist er da, Leute. In weniger als einer Stunde treffen wir auf eine unbekannte Streitmacht, und in unserer Hand liegt das Schicksal wahrscheinlich Hunderter. Ich weiß, dass ihr sie nicht im Stich lassen werdet.«
Er schaltete das Intercom aus und sofort wieder aufs schiffsinterne Funknetz um. Diesmal war seiner Stimme das Grinsen deutlich anzuhören. »Tut mir leid, irgendwie hat es sich doch ein wenig wie Nelson angehört. Und jetzt wollen wir rausgehen und in einige Hintern treten.«
24
C abrillo machte auf seinem Weg zum Angriffsteam einen kurzen Abstecher in seine Kabine. Er zog sich aus und schlüpfte in schwarze Tarnkleidung, eine Kevlarweste und ein Kampfgeschirr. Während die meisten Kleinwaffen der Corporation in einem Waffenschrank aufbewahrt wurden, deponierte Juan seine eigenen stets in einem antiken Safe in der Ecke seines Büros, ein Relikt aus einem längst aufgegebenen Eisenbahndepot der Santa-Fe-Linie. Er schob zwei FN Fiveseven Pistolen in Nierenholster und opferte ein wenig Gewicht für die Sekunden, die er damit einsparte, dass er nicht würde nachladen müssen.
Da er eine größere Streitmacht von sechs Spezialisten anführen würde, hatten sie bereits entschieden, die gleichen Sturmgewehre zu benutzen. Er nahm sich ein M-4A1 und verstaute sechs Reservemagazine in den dafür vorgesehenen Taschen. Er verzichtete auf ein zweites Messer, begnügte sich vielmehr mit dem zehn Zentimeter langen Gerber, das umgedreht an seinem Schultergurt hing. Er schnallte sich ein Paar Knieschützer um, machte einige Kniebeugen, damit sie perfekt saßen, und schob die Hände zum Schutz seiner Handflächen in fingerlose Handschuhe mit dicken Lederpolstern. Er sah sein Ebenbild im Badezimmerspiegel. Die Entschlossenheit und der Elan, der ihn während seiner Zeit bei der CIA aufrechtgehalten und zur Gründung der Corporation geführt hatte, lag nun in seinen Augen, granithart und konzentriert. Kampfgesicht nannten sie es, dieses zielstrebige Zusammenwirken von Training, Erfahrung und Willen.
Wieder einmal war Juan im Begriff, über sich selbst hinauszugehen, sich für andere oder vielleicht auch für sich selbst zu opfern. Er blickte sich in die Augen, sah dort ein unbeugsames Funkeln und lachte plötzlich laut auf.
Kampfgesicht hin oder her, Juan wusste auch, dass er sich an der Gefahr berauschte. Warum sonst war er in diesem Geschäft? Adrenalin und Endorphine stimmten schon wieder ihren Sirenengesang an, summten leise an seiner Schädelbasis und bescherten ihm jenes Hochgefühl, das nur die begriffen, die es selbst auch schon erlebt hatten. Einem Gegner gegenüberzutreten, heißt, sich mit sich selbst zu konfrontieren. Diesen Gegner zu bezwingen lieferte einem erst die Bestätigung, dass man tatsächlich das war, was zu sein man immer von sich geglaubt hatte.
In der Bootsgarage war es kalt und feucht. Dort wimmelte es von Männern und Frauen, die letzte Vorbereitungen trafen. Anstatt dem Zodiac, wurde der
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