Todesfracht
in seiner Umgebung und rekapitulierte den Akzent, dessen er sich bedient hatte, als er im Auftrag der CIA im Land gewesen war.
Ungläubig betrachtete er die Veränderungen, die in den Jahren seit seinem letzten Besuch in Chinas größter Metropole stattgefunden hatten. Die Skyline gehörte zu den höchsten der Welt, mit Gebäuden und Baukränen, die fast den Himmel zu berühren schienen. Das Leben lief jetzt um vieles hektischer ab, als er es in Erinnerung hatte. Jedermann auf den Bürgersteigen kommunizierte lautstark und erregt über allgegenwärtige Mobiltelefone. Und wenn der Abend anbrach, machten die Straßen Shanghais mit ihren Neonreklamen dem Las Vegas Strip ernsthaft Konkurrenz.
Mit kleinen Schritten tauchte er wieder in die Gesellschaft ein. Nachdem er aus seinem Hotel ausgezogen war, hatte er seine beiden Koffer hinter einem Müllcontainer, der soeben geleert worden war und daher für ein paar Tage nicht von seinem Platz entfernt werden würde, stehen gelassen. Nicht dass sich in den Koffern irgendetwas befand, das ihn hätte in Schwierigkeiten bringen können. Die Diplomatenpapiere hatte er bereits im Hotel durch die Toilette hinuntergespült. Als Nächstes kaufte er in einem nicht allzu teuren Kaufhaus einige Kleider von der Stange. Der Verkäufer dachte sich nichts dabei, dass ein Kunde in einem teuren westlichen Anzug Kleidung aussuchte, die nicht seinem Standard zu entsprechen schien. Bekleidet mit seinen Neuerwerbungen, entsorgte Eddie seinen Anzug und fuhr mit dem Autobus aus der betriebsamen Innenstadt in eine Gegend, die von Fabriken und tristen Mietskasernen geprägt war. Mittlerweile wies sein Hemd diverse Essensflecken auf, und seine Schuhe wirkten abgenutzt, nachdem er sie mit einem Ziegelstein entsprechend bearbeitet hatte.
In ihren schlecht sitzenden Kleidern warfen ihm zwar einige Arbeiter neugierige Blicke zu, jedoch schenkte ihm im Großen und Ganzen niemand besondere Aufmerksamkeit. Er war zwar nicht einer von ihnen, aber er sah auch nicht so aus, als stünde er hoch über ihnen. Der Angestellte in dem Bekleidungsladen, wo er zwei weit geschnittene Hosen, ein paar Oberhemden und eine dünne graue Windjacke kaufte, vermutete sicherlich, Eddie wäre ein erfolgloser Kaufmann und gezwungen, sich eine ordinäre Arbeit zu suchen. In einem anderen Laden kaufte er Schuhe und einen Rucksack, und in einem dritten Laden fand er einige Toilettenartikel, ohne beim Verkaufspersonal misstrauische Blicke hervorzurufen.
Als er schließlich den Busbahnhof betrat, um seine Reise in die Provinz Fujian anzutreten – es war sein dritter Tag ohne gründliche Dusche –, war er ein anonymer Arbeiter, der in sein Dorf zurückkehrte, weil er es nicht geschafft hatte, in der großen Stadt Fuß zu fassen. Die langsame Verwandlung garantierte nicht nur, dass sich niemand an ihn erinnern würde, sie half Eddie auch, voll und ganz in seine Rolle hineinzuwachsen. Als er auf der kalten Bank im Wartesaal des Busbahnhofs saß, lag in seinen Augen der niedergeschlagene Ausdruck des Versagens, und sein Körper krümmte sich unter der drückenden Last des vollständigen Misserfolgs. Eine alte Frau, die ihn zu einem Gespräch animierte, meinte, für ihn sei es sicherlich das Beste, zu seiner Familie zurückzukehren. Die Stadt sei nun mal nicht für jeden geschaffen, sagte sie und erzählte weiter, sie habe zu viele junge Leute gesehen, die dem Drogenkonsum als Flucht aus der Realität zum Opfer gefallen seien. Glücklicherweise bewahrte sie der Graue Star davor zu erkennen, dass Eddie gar nicht so jung war, wie sie annahm.
Die Reise, eingepfercht in einen vollbesetzten Bus, der bleihaltige Abgaswolken ausstieß und nach ungewaschenen Menschen stank, war ereignislos verlaufen. Seine Probleme begannen, als er Lantan erreichte, die Stadt, in der Xang und seine Familie zu einer Reise aufgebrochen waren, die damit endete, dass sie in einem Frachtcontainer einen grausamen Tod fanden.
Eddie hatte keine Ahnung – auch das, weil er keine Zeit für eine gründliche Vorbereitung gehabt hatte –, dass er sein Ziel erreichte, während gerade eine regionale Wahl anstand. Die Armee hatte auf dem Stadtplatz einen Kontrollposten aufgestellt, den jeder auf dem Weg zu den Wahllokalen durchlaufen musste.
Eddie war schon einmal Zeuge solcher Wahlen geworden und wusste, dass sich die Stadtbewohner nur für jeweils einen Kandidaten für jedes Amt entscheiden konnten. Oft genug waren die Wahlen schon vorbestimmt, und der Wähler musste
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