Todesfracht
seinen Stimmzettel unter den wachsamen Blicken bewaffneter Soldaten in die Wahlurne stecken. Dies war die chinesische Version demokratischer Rechte für das Volk. Einige hochrangige Funktionäre waren aus der Provinzhauptstadt Xiamen herübergekommen, um der Wahl beizuwohnen, und das Militär hatte sogar einen Panzer mitgebracht – einen wuchtigen Tank vom Typ 98, wenn Eddies schneller Blick ihn nicht getäuscht hatte. Er vermutete, dass es eine Art Werbemaßnahme der Volksbefreiungsarmee und zugleich ein subtiler Hinweis darauf war, wer in China letztlich die Macht hatte.
Obwohl Lantan nicht ganz zehntausend Einwohner hatte, wusste Eddie, dass er auffallen würde. Er beherrschte den örtlichen Dialekt nicht sehr gut und konnte keine einleuchtende Begründung für seinen Aufenthalt in der Stadt nennen, falls er von einem neugierigen Soldaten danach gefragt werden sollte. Deshalb hatte er die letzten fünf Stunden unter einer Brücke in einem Bewässerungsgraben außerhalb der Stadtgrenze verbracht.
Er hatte nicht vor, sein Versteck zu verlassen, bevor die amtlichen Vertreter und das Militär zu ihrem nächsten Einschüchterungsauftritt weiterzogen. Aber erneut verließ Eddie das Glück, das er für sich schmieden wollte.
Er hatte sich ganz in seine eigene Welt der Kälte und der Schmerzen zurückgezogen und hörte die Stimmen nicht, bis sie sich unmittelbar über ihm befanden.
»Nur noch ein kleines Stück weiter«, lockte eine männliche Stimme. »Ich habe eine schöne Stelle gesehen, als wir in die Stadt kamen.«
»Nein, ich will zurück.« Es war die Stimme einer Frau, aber die einer jungen – vielleicht eines Teenagers. Sie klang ängstlich.
»Nein, es wird sicher sehr nett«, sagte der Mann. Er hatte einen städtischen Akzent. So etwas hörte man in Peking und seiner näheren Umgebung. Die junge Frau kam der Sprache nach aus diesem Ort.
»Bitte. Meine Eltern fragen sich bestimmt, wo ich bin. Ich habe einiges zu erledigen.«
»Ich sagte, komm endlich weiter.« Der Mann vergaß nun jeden Anflug von Höflichkeit. Seine Stimme klang scharf und hatte einen manisch heftigen Unterton.
Sie befanden sich auf der Brücke, die sich über den Graben spannte, nur ein kleines Stück über Eddies Kopf. Erdkrumen rieselten von der stabilen Holzkonstruktion herab. Ihre Schritte waren ungleichmäßig geworden. Die junge Frau zögerte und versuchte langsamer zu gehen, während der Mann an ihrem Arm zog, als wollte er sie mitschleifen.
Eddie stieß sich leise vom Uferwall ab und durchquerte den fast drei Meter breiten Graben. Dabei hörte er, wie der Mann das Mädchen über die Brücke zerrte. »Es macht Spaß«, sagte er. »Es wird dir bestimmt gefallen.«
Gleich hinter dem Dorf erstreckte sich an der Landstraße ein dichtes Wäldchen. Es war ein einsamer, abgelegener Ort, der, wie Eddie wusste, schon bald Schauplatz einer Vergewaltigung sein würde. Während der Mann und sein Opfer der Straße folgten, kroch Eddie aus dem Graben und wäre sicherlich entdeckt worden, wenn jemand aus der nahen Stadt diese Stelle beobachtet hätte. Er hätte sich auf keinen Fall aus seinem Versteck herauswagen dürfen. Was schon bald geschehen würde, war überhaupt nicht seine Angelegenheit, aber er war gerade im Begriff, es dazu zu machen.
Der Mann war ein Soldat. Er trug die AK-47 an einem Riemen über der Schulter, und seine Uniform war im Vergleich zu den schmuddeligen Kleidern, die das Bauernmädchen trug, sauber und adrett. Er hatte ihren Arm gepackt und hob sie ein wenig hoch, sodass ihre Füße im Froschgang zu den ersten Bäumen, die bereits im Schatten lagen, während die Sonne hinter einer Bergkette im Westen versank, kaum den Boden berührten. Das Mädchen trug einen Rock und eine schlichte Bluse. Ihr langes Haar hing zu einem dicken Zopf geflochten zwischen ihren Schulterblättern herab.
Eddie wartete, bis sie im Wäldchen verschwunden waren. Er blickte zur Stadt. Elektrisches Licht flammte in ein paar Gebäuden auf, während andere Häuser dunkel blieben, weil ihre Bewohner mit den Kerzen, die sie als Beleuchtung verwendeten, sparsam umgingen. Niemand sah in seine Richtung, und die Soldaten auf dem Stadtplatz schienen Vorbereitungen zu treffen, den Panzer auf seinen zwanzigrädrigen Spezialtransporter zu laden.
Eddie stieg aus dem Graben und überquerte die Straße, wobei Wasser aus seinen Kleidern tropfte. Seine Füße waren nackt, weil er wusste, dass sich der billige Stoff und die Nähte während eines derart langen
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