Todesfracht
er tröstend.
»Wer sind Sie?« Vor Schmerz und Scham schluchzte sie krampfhaft.
»Ich bin niemand. Du hast mich nicht gesehen, und das Ganze ist nicht passiert. Du hast dir den Finger gebrochen, als du auf dem Nachhauseweg vom Feld gestürzt bist. Hast du verstanden?« Ihr Blick wanderte zur Gestalt des toten Soldaten. Er verstand ihre stumme Frage. »Ich kümmere mich um ihn. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Niemand erfährt etwas.
Und jetzt geh zu deiner Familie zurück und sprich niemals über diesen Tag.«
Sie drehte sich um und schlüpfte in ihre Bluse. Es waren noch genügend Knöpfe übrig, um ihren Oberkörper ausreichend zu verhüllen. Sie erhob sich und kämpfte dabei gegen die Tränen an, die ihr aus den Augen quollen. Der Grund dafür war eine Mischung aus Stolz, Scham und Qual. Es war ein Gesicht Chinas.
»Warte mal«, rief Eddie ihr nach, ehe sie die Waldlichtung verließ. »Kennst du eine Familie namens Xang? Mehrere von ihnen sind vor Kurzem auf der Schlange geritten.«
Die Frage nach der illegalen Immigration ließ sie einen Schritt zurückweichen, als wollte sie jeden Moment davonlaufen. Aber sie blieb stehen, um sich bei dem Mann, der sie gerettet hatte, zu revanchieren. »Ja, sie wohnen in der Stadt. Sie besitzen eine Werkstatt für Fahrräder. Die Familie wohnt darüber.
Haben Sie Neuigkeiten von ihnen?«
Aus ihren Worten entnahm er, dass sie die Familie gut kannte. Vielleicht war sie sogar die Freundin, von der Xang in seinem Tagebuch geschrieben hatte. »Ja«, sagte er, traurig über das, was er ihr erzählen würde. »Sie sind in Japan angekommen, und sie haben alle Arbeit. Und jetzt geh!« Aufgeschreckt von seinem letzten Befehl, verschwand die junge Frau zwischen den Bäumen. Damit hatte Eddie wahrscheinlich etwas viel Schlimmeres getan als der Soldat. Er hatte dem Mädchen Hoffnung geschenkt.
Er durchsuchte die Taschen des Soldaten nach seinen Ausweisen und nahm dann die Hundemarke von seinem Hals und hängte sie sich selbst um. Aus dem Gewehrriemen und dem Gürtel des Soldaten bastelte er ein Seil und hatte die Leiche zehn Minuten später in die Astgabel einer Eiche etwa sechs Meter über dem Boden geschnallt. Suchtrupps, die nach einem Deserteur Ausschau hielten, würden Tage brauchen, um die Leiche zu finden, höchstwahrscheinlich erst anhand des Verwesungsgeruchs.
Mit einem Baumast verwischte er alle Spuren des Geschehens und kehrte zu seinem Versteck unter der Brücke zurück.
Das Mädchen hatte wahrscheinlich längst die Stadt erreicht und zusammen mit ihrer Mutter einen Arzt aufgesucht, um ihren Finger behandeln zu lassen. Ihre Probleme waren gelöst. Die von Eddie hatten gerade erst begonnen.
Das Militär würde Lantan nicht verlassen, bevor alle Soldaten vollzählig angetreten wären. Alles sprach dafür, dass sie die Nacht noch dort bleiben würden, und es war zu bezweifeln, dass der tote Vergewaltiger vor dem Morgen vermisst würde. Seine Kameraden würden ihn sicherlich decken – in der Annahme, dass er jemanden gefunden hatte, entweder eine Prostituierte oder die sprichwörtliche Bauerntochter, deren Schönheit und Bereitwilligkeit in China genauso populär waren wie in Amerika.
Die Probleme würden erst beim morgendlichen Appell beginnen. Wenn er dort nicht erschien, würden sie die Stadt und die umliegenden Felder durchsuchen. Eddie konnte seine Mission genauso wenig abbrechen, wie er das Mädchen hatte seinem Schicksal überlassen können. Also war Zeit bis zum Morgengrauen, um sich irgendwie an die Schlangenköpfe heranzumachen. Er hatte nicht mehr die Absicht, sich bei ihnen Informationen über das Schicksal Xangs und der anderen Immigranten zu verschaffen. Er brauchte sie jetzt, um sich aus China herauszuschmuggeln.
Er betrachtete die Hundemarke des Soldaten und wusste, dass er damit über eine perfekte Tarnung verfügte.
13
A nton Savich war froh, dass er nur noch einmal fliegen musste, um sein Ziel zu erreichen. Er hatte Tage gebraucht, um auf dem Flughafen Elizowo außerhalb von Petropawlowsk-Kamtschatski, der Provinzhauptstadt der Halbinsel Kamtschatka an der Ostküste Russlands, anzukommen.
Petropawlowsk-Kamtschatski oder kurz PK, wie es im Allgemeinen genannt wurde, war für die Außenwelt bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1990 gesperrt gewesen.
Und die darauffolgenden Jahre hatten nur geringe Verbesserungen gebracht. Fast jedes Gebäude war aus dem Beton erbaut worden, der zum Teil aus der Asche des Vulkanausbruchs des nahen
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