Todesgott
schlendere durch Heiðas weißgestrichenes Wohnzimmer in ihrer Dachgeschosswohnung in der Aðalstræti, direkt neben dem landesbekannten Eiscafé Brynja. In allen Ecken stehen Blumen, hübsche Gestecke und zeitlose Möbel. Als ich ans CD -Regal trete, höre ich Jóa und Heiða mit halbem Ohr plaudern und lachen, verstehe aber nicht, worum es geht. Ich entdecke eine CD von Muddy Waters und lege
I’m Your Hoochie Coochie Man
auf.
Im weichen Licht zweier glänzender Stehlampen sehe ich, wie glücklich die beiden schönen Frauen miteinander sind.
Ich habe das durchdringende Gefühl, jeden Moment schwach zu werden. Wir haben köstlich gespeist: als Vorspeise Avocado mit Krabben und als Hauptspeise gefüllte Schweinefilets. Daher bin ich nicht hungrig. Mein Magen ist gesättigt. Aber da ist dieser verdammte Durst in der Seele. Die ganze Zeit hier im Nordland habe ich noch keinen so starken Durst verspürt.
Seit ich heute Morgen aufgewacht bin, schwanke ich zwischen Pessimismus und Optimismus, zwischen Kapitulation und Angriffslust. Aufs Neue versuche ich, dieses altbekannte, altbewährte Gefühl zu verdrängen, aber es kommt sofort wieder hoch.
»Meine Damen«, sage ich und hebe meine Tasse, um mit ihnen anzustoßen. »Das war wirklich ein wunderschöner Abend. Und ich würde nichts lieber tun, als mich mit euch zu besaufen.«
Jóa, die heute Abend in einem hellen Kostüm erstrahlt und sich ausnahmsweise geschminkt hat, schaut mich entsetzt an. »Nein, Einar, das darfst du nicht. Dann würden wir es bereuen, dich eingeladen zu haben.«
»Dich und Snælda«, lächelt Heiða, die Jóa in ihrem tief ausgeschnittenen, kurzen blauen Kleid in nichts nachsteht.
»Nein, nein. Macht euch keine Sorgen«, sage ich, »aber ich hab so ein Gefühl. Ich war den ganzen Tag schon so verdammt unruhig.«
»Dann geschieht gerade was mit dir«, sagt Jóa. »Du verarbeitest neue Eindrücke. Glaub mir.«
»Tja, ich würde mir wünschen, dass du recht hast. Dass das nur ein ganz normaler Durst ist. Normales Selbstmitleid und normale Flucht davor.«
»Na komm schon«, sagt Heiða und reicht mir die Zigarettenschachtel, die unberührt auf dem Couchtisch liegt, seit Snælda und ich eingetroffen sind. »Nimm dir eine. Wir sterben schon nicht vom Rauch einer Zigarette.«
Als ich kurz nach Mitternacht durch die Innenstadt fahre, beginnen gerade die Völkerwanderungen. Die Atmosphäre in den Straßen und auf den Gehwegen ist voller Erwartung, gepaart mit mysteriöser Spannung, Trostlosigkeit und Aggression, wie sie für das isländische Nachtleben typisch sind. In den Cafés und Kneipen steigt die Stimmung. Noch ist es windstill und mild, bis der Sturm des Nachtlebens zuschlägt.
Ein Mann mit einem Papageienkäfig wäre da ziemlich fehl am Platze. Vielleicht habe ich sie deshalb heute Abend mitgenommen. Vielleicht wusste ich, dass nur meine Verantwortung für sie mich davon würde abhalten können, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Vielleicht wusste ich, dass meine Vergangenheit nicht abschreckend genug sein würde: Erinnerungen an erbärmliche Anbaggerversuche, anzügliche Witze und aufgesetzte Fröhlichkeit.
Als wir zu Hause vorfahren, drehe ich mich zu Snælda, die sich die ganze Fahrt über schwankend an ihrer Stange festgekrallt hat und jetzt geduldig darauf wartet, hineingetragen zu werden:
»Was meinst du, Schatz? Braut sich da was in mir zusammen?«
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22
Samstag
W er hat beim Irakkrieg nicht gelogen? Meteorologenverein aus Dalvík ist geteilter Meinung über die Wettervorhersage für den kommenden Sommer. Isländer kaufen Mehrheitsanteil der britischen Kaufhauskette Marks & Spencer. Wettbüros prophezeien Island den ersten Platz beim Eurovision Song Contest.
Unaufhörlich strömen die Meldungen von den Seiten der Tageszeitungen. Ich blättere und blättere und finde nichts Interessantes. Über die Ermittlungen des Todes von Skarphéðinn Valgarðsson ist kaum etwas geschrieben worden oder über den Äther gegangen, seit die Jungs aus Reyðargerði aus der U-Haft entlassen wurden.
Das Büro des
Abendblatts
in Akureyri ist an diesem Samstagnachmittag wie ausgestorben, während es draußen in der Innenstadt von hoffnungsfrohen Menschen mit Frühling im Herzen nur so wimmelt. Ich fahre den Computer hoch und versuche, aus Notizen und Tonbändern Bruchstücke über das Leben des verstorbenen Schülers zusammenzuklauben. Wie erwartet, ergeben sie kein eindeutiges Bild, wie viele Anläufe ich auch nehme. Ich bin
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