Todesgott
lieber noch eine Runde spazieren.«
»Ist das dein Ernst? Willst du mich hier allein lassen, in einer fremden Stadt?« Ich versuche, witzig zu sein, obwohl ich jetzt schon Angst vor dem Alleinsein habe.
»Du bist doch ein großer Junge, Einar«, antwortet Jóa. »Bis morgen.« Dann entschwindet sie in Richtung Rathausplatz und ruft mir über die Schulter zu: »Danke für den Abend!«
Keine Ursache. Meine Gedanken wandern zu Gunnsa, die jetzt bestimmt mit Raggi, Rúna und irgendeinem Mistkerl über den Rathausplatz in Kopenhagen spaziert.
Der Abend am Fjord ist idyllisch. Noch haben die Völkerwanderungen von den Privatpartys, aus den Restaurants und Cafés in die Kneipen und Diskotheken nicht begonnen. Der Verkehr nimmt langsam zu, überall Autokorsos, die Runde um Runde drehen.
Als ich das weiträumige Lokal betrete, ist noch nicht viel los. Hier versucht man angenehmerweise nicht, hip und cool zu sein und dem letzten Schrei zu huldigen. Der Raum ist mit blinkenden Lichterketten, Postern von mitteleuropäischen Wald- und Gebirgslandschaften und rosa Rüschengardinen an den Fenstern dekoriert.
Ich suche mir einen Platz an der endlos langen Theke, hole meine schwere Bewaffnung heraus, zünde sie an und bestelle Kaffee. Im Saal verteilt sitzen mehrere Grüppchen. Auf der Tanzfläche zappeln zwei Mädchen zu einem Beatles-Song, den eine vierköpfige Band auf der Bühne am Ende des Raumes zum Besten gibt.
A bad little kid moved into my neighbourhood,
He won’t do nothing right,
just sitting down and looks so good …
Zwei Paare mittleren Alters gesellen sich zu mir an die Bar. Sie sind sturzbesoffen.
Das eine Paar – er korpulent und in einem viel zu engen Jackett, sie in Pelz gehüllt und auf hohen Pfennigabsätzen wankend – streitet sich.
»Helgi Hámundarson, Elektrikermeister, du bist ein Nichts!«, herrscht die Frau den Mann an, wahrscheinlich zum hundertsten Mal.
Elektrikermeister Helgi Hámundarson verschließt, wahrscheinlich zum hundertsten Mal, seine Ohren und widmet sich den wichtigen Dingen des Lebens: einem doppelten Wodka-Cola.
Die Frau dreht sich zu mir. »Weißt du, wie sehr ich diesen Mann hasse?«, fragt sie und schaut durch mich hindurch.
»Nee, weiß ich nicht«, murmele ich in meine Kaffeetasse.
Sie nimmt mich gar nicht wahr. »Wenn man ab und zu gerne mal ein Würstchen isst, heißt das noch lange nicht, dass man ein ganzes Schwein möchte«, schimpft sie vor sich hin. Dann wankt sie mit einem großen Glas grünfarbenen Likörs zu der anderen Frau, die mit einem Krug Bier am nächsten Tisch sitzt.
Die Männer stehen Seite an Seite neben mir und stoßen an.
Elektrikermeister Helgi Hámundarson sagt zu seinem Kumpel: »Hast du schon den neuesten Anmachspruch gehört?«
»Glaub nicht«, lallt der andere.
»Du sagst einfach zu der Frau: Rauchst du gerne nach dem Sex? Antwortet sie: Ja. Sagst du: Dann muss ich dran denken, eine Schachtel Zigaretten zu kaufen.«
Während sie sich ausschütten vor Lachen, schleicht sich der unsichtbare Mann wie ein Nichts davon und denkt: Ob diese Leute Kinder haben? Wie es denen wohl geht? Wie die wohl sind?
In einem der Wagen im Autokorso auf der Strandgata meine ich plötzlich Agnar Hansen mit seinem blonden Pferdeschwanz zu erkennen, bin mir aber nicht sicher.
Ein Mann ohne Schuhe bemitleidete sich und bemitleidete sich und konnte nicht aufhören, sich zu bemitleiden, bis er einem Mann ohne Füße begegnete.
Mit diesem Gedanken im Kopf wache ich auf, ohne zu wissen, woher er kommt. Es ist halb sieben Uhr morgens. Ich bin auf dem Sofa im Wohnzimmer eingenickt bei einem sich ständig wiederholenden Beitrag im Lokalsender, in dem Vertreter der Stadtverwaltung und des Skigebiets Hlíðarfjall ihre Besorgnis darüber äußerten, dass die Werbekampagne für die großartigen Schneeverhältnisse aufgrund des warmen Wetters buchstäblich im Sande verlaufe.
Davor habe ich zum zehnten Mal
Chinatown
geguckt. Der ist immer wieder unterhaltsam, besonders die Szene, in der Polanski in der Rolle des fiesen, kleinen Gangsters seine Messerspitze in Jack Nicholsons Nasenloch schiebt und fragt: »You know what happens to nosy fellows?«
Als ich gegen eins nach Hause kam, war Jóas Zimmertür geschlossen. Ich versperrte alle Fluchtwege, ging in mein Zimmer und öffnete Snældas Käfig. Dann setzte ich mich mit Cola und Knabberzeug aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Nach wenigen Minuten kam der Vogel ins Wohnzimmer geflogen und setzte sich auf
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