Todesgott
Noch bevor ich den ersten Zug genommen habe, stößt mich eine Frau vom Nachbartisch an.
»Du darfst hier nicht rauchen. Dafür musst du in die Bar gehen.« Sie sieht mich an, als wäre ich ein verdreckter, widerwärtiger und äußerst gefährlicher Terrorist mit einem Sprengsatz im Mund.
Ich schaue mich um. Niemand raucht. Ich fühle mich wie schon so oft in der letzten Zeit: wie ein einsamer, verfolgter Geächteter, der mit Massenvernichtungswaffen auf der Flucht ist.
»Verzeihung«, sage ich zu der Frau. »Das war keine Absicht. Ich hatte nicht vor, ein Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen.«
»Meinst du etwa mich, sagt der Kommissar, an jenem Abend war ich an der Bar«, wird in der Bar gesungen.
Eine Schiffsbesatzung mit einem Schlagerspezialisten an Bord feiert lautstark. Ein selbsternannter Dichter unterhält seine unverblümt gähnenden Freunde mit Versen. Eine Großfamilie feiert den achtzigsten Geburtstag des Urgroßvaters, und ein junges Paar sitzt schweigend in der Ecke; sie ist schwanger, er sternhagelvoll.
Ob es ein glückliches Kind werden wird?, denke ich, während wir an einem kleinen Tisch Platz nehmen.
Ich habe Jóa und Aðalheiður zu Kaffee und Cognac und mich selbst zu einer Zigarette eingeladen. Die Chefredakteurin der
Akureyri-Post
hat uns ausführlich vom städtischen Wachstum berichtet, von der Förderung der Universität und der weiterführenden Schulen in Akureyri, von zusätzlichen Internaten, von der Vergrößerung der Stadtbibliothek, von der Renovierung des Gemeindehauses, von der ungeheuren Zuversicht des neuen Intendanten am Städtischen Theater, von den Rekordbesucherzahlen im Städtischen Schwimmbad, von steigenden Touristenzahlen, vom neuen Kindergarten, von gigantischen Bauvorhaben und von einem Symposium über die Sanierung der Innenstadt, die unter der zunehmenden Konkurrenz durch die Einkaufszentren in den Vororten leidet.
Dieselbe Entwicklung, dieselbe Ideologie. Starke internationale Kontakte.
Als der Vortrag beendet ist, frage ich: »Kennst du zufällig die Leute, die auf der Vestari Jökulsá verunglückt sind?«
»Nicht persönlich«, antwortet Aðalheiður und nimmt den letzten Schluck Cognac. »Die Süßwarenfabrik Nammi ist ein alteingesessener Familienbetrieb. Die verunglückte Frau stammt aus dieser Familie. Ihr Mann, Ásgeir Eyvindarson, führt die Firma schon seit Jahren. Er ist ehemaliger Stadtverordneter und Parlamentarier der Mittepartei.«
»Anständige Leute?«
»Soweit ich weiß, ja. Ich hab irgendwann mal gehört, die Frau, Ásdís Björk, sei schwerkrank.«
»Bist du in Akureyri geboren?«
»Ja«, antwortet sie, »aber nach der Schule bin ich weggezogen. Wollte mal was anderes sehen.«
Ich zünde mir noch eine Zigarette an und beobachte die Bargäste. »Ich verstehe nicht, woher dieses Klischee kommt, die Leute aus Akureyri wären Fremden gegenüber distanziert, wenn nicht gar abweisend. Ich finde, sie sind so wie alle anderen auch. Nämlich unterschiedlich.«
»Wir haben uns schon gebessert«, entgegnet sie lächelnd, »aber man sollte sich trotzdem lieber anpassen als ausgrenzen. Dann hat man’s leichter. Also auf gar keinen Fall das ästhetische Empfinden der Leute durch einen ungepflegten Garten voller Unkraut beleidigen oder mit einer schmutzigen Rostlaube durch die Gegend fahren und sie vorm Haus parken. Dann wird man schief angeguckt.«
Nun weiß ich, woran ich mit meinem fahrbaren Untersatz in der neuen Umgebung bin.
Um kurz vor elf treten wir auf die Strandgata hinaus. Obwohl es tagsüber warm war, hat es sich merklich abgekühlt. Aðalheiður fröstelt.
»Also dann, ich gehe jetzt nach Hause. Danke für den schönen Abend.«
Es fällt mir schwer, meine Enttäuschung zu verbergen. »Ganz meinerseits«, bringe ich gerade noch heraus und reiche ihr die Hand. »Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.«
»Ja«, antwortet sie lächelnd. »Das wäre nett.«
Jóa und sie geben sich die Hand und nicken einander zu.
Aðalheiður winkt noch einmal und geht über die Straße zum Taxistand an der Glerárgata.
Jóa und ich schauen uns an. »Und jetzt?«, sage ich. »Darf ich dich noch irgendwo zu einem Drink einladen?«
Sie überlegt, während sie ihre blaue Daunenjacke über das schwarze Jackett zieht. »Nee, lieber nicht.«
»Nicht doch, Jóa, der Abend ist doch noch jung!«
»Ja, und wir werden immer älter«, sagt sie.
Ich habe keine Jacke dabei und friere leicht. »Du bist doch gerade mal dreißig, Mensch!«
»Ich gehe
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