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Todesgott

Todesgott

Titel: Todesgott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Árni Thórarinsson
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die Gardinenstange. Dort sang und trällerte Snælda eine Zeitlang. Während ich Chips in mich hineinstopfte, kam sie plötzlich im Sturzflug von der Stange zu mir herunter und ließ sich hinten auf dem Kragen meines weißen Hemdes nieder. Dort blieb sie sitzen, knabberte an den Chips, die ich ihr ab und zu reichte, und liebkoste mich zwischendurch sanft am Hals.
    Aber jetzt, als ich wach werde, ist sie wieder in ihrem Käfig verschwunden und hockt mit dem Kopf unter dem Flügel auf ihrer Stange. Ich schließe das Käfigtürchen so leise wie möglich, damit die einzige Frau in meinem Leben nicht aufwacht. Dann kratze ich den Papageienkot von meinem weißen Kragen.
     
    Als ich am Gründonnerstag gegen Mittag zum zweiten Mal aufwache, ist in der Wohnung immer noch alles friedlich. Ich bin ausgeschlafen und überrasche mich selbst mit meiner guten Laune. Hinter den Gitterstäben kreischt Snælda und lacht, als ich ihr die Frühstückskörner serviere. Draußen ist strahlender Sonnenschein, und in den Gärten spielen Kinder Ball. Ich gehe in die Küche, schalte den Wasserkocher und das Radio ein und zünde mir eine Zigarette an. In den Mittagsnachrichten gibt es nicht viel Neues, doch auf einmal wird eine Meldung vorgelesen, die mich aufhorchen lässt:
    »Skarphéðinn Valgarðsson, Schüler am Gymnasium in Akureyri, wird gebeten, sich umgehend mit Örvar Páll oder Ágústa in Verbindung zu setzen unter einer der folgenden Nummern …«
    Den habe ich doch schon mal getroffen, denke ich, gehe in den Flur, wo die Wochenendausgabe des
Abendblatts
vor dem Briefschlitz liegt, und blättere in der Zeitung bis zu meinem Artikel mit der folgenden Überschrift:
    MEIN WILLE WERDE DEIN WILLE
    Der neue Loftur von Akureyri behauptet, das alte Stück von Jóhann Sigurjónsson sei brandaktuell. Schüler des Gymnasiums führen das Werk heute Abend an seinem Originalschauplatz in Hólar im Hjaltatal auf.
    Ob der letzte Satz schon nicht mehr der Wahrheit entspricht?

[home]
7
    Gründonnerstag
    M eine Wünsche sind gewaltig und grenzenlos. Und am Anfang war der Wunsch. Die Wünsche sind die Seelen der Menschen.«
    Skarphéðinn Valgarðsson, ein etwa zwanzigjähriger Gymnasiast aus Akureyri, zitierte den nahezu hundert Jahre alten Text von Jóhann Sigurjónsson so leidenschaftlich und überzeugend, dass ich fast den Eindruck hatte, er hätte ihn selbst geschrieben.
    »Stell dir den Dialog zwischen Loftur und dem blinden Mann im ersten Akt vor«, sagte er, als wir im Eingangsbereich der Sporthalle von Hólar saßen, »als der Blinde sagt, er habe sich immer wieder gewünscht, dass ihm durch Gottes Gnade die Dunkelheit von den Augen genommen würde. Daraufhin sagt Loftur: ›Ich weiß, dass der Wunsch eines Menschen Wunder bewirken kann. So war es früher, und so ist es heute noch.‹ Das sehe ich auch so. Wenn wir wissen, was wir wollen, haben wir die Wunder selbst in der Hand. Und als der blinde Mann kurz darauf sagt: ›Ich sehnte mich so lange danach, bis ich sündigte. Erst als ich aufhörte, mich zu sehnen, fand meine Seele endlich Frieden‹, da hat ihn seine Vorstellung von Sünde kapitulieren lassen. Er hat seinen Seelenfrieden gefunden, indem er aufgab und sich mit der Situation abfand.«
    »Aber«, fragte ich forsch, obwohl ich in literarischen Debatten überhaupt nicht bewandert bin, »Loftur schließt doch einen Vertrag mit dem Teufel, damit seine Wünsche in Erfüllung gehen. Willst du das etwa rechtfertigen?«
    Skarphéðinn schaute mich lächelnd an. »Ja, um seine Ziele zu erreichen, möchte Loftur zunächst dem Teufel seinen Willen überlassen, aber dann will er wieder unabhängig sein und den Vertrag mit dem Teufel brechen. Diesen Vertrag kann man natürlich auch symbolisch sehen. Es kann sich genauso gut um einen Vertrag mit dem eigenen Ich oder mit Teilen des eigenen Ichs handeln.«
    »Und was glaubst du?«
    Er dachte kurz nach. »Ich würde die Deutung offenlassen. Jeder Zuschauer kann sich selbst eine Meinung bilden, wie bei vielen anderen Stellen im Stück auch. Und im Leben. Ich spiele diesen Mann und versuche, ihn zu verstehen. Es ist nicht meine Absicht, ein moralisches Urteil über ihn zu fällen.«
    »Aber es ergeht ihm schlecht.«
    »Ja, das ist die Entscheidung des Autors. Er dirigiert sein Werk auf dem Papier und legt seinen moralischen Maßstab an, vielleicht, um der sittsamen Gesellschaft zu gefallen. Ich weiß es nicht. Das sind ja alte Motive. Faust und Nietzsche und die Idee des Übermenschen, der

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