Todesgott
verantwortlich fühlt und denen niemand verpflichtet ist. Ich meine auch den Verkauf von Amphetaminen aus den Chemielabors in Estland, von Heroin aus St. Petersburg oder Haschisch aus Skandinavien. Und ich spreche auch, wie meine Vorrednerin, von Prostitution, Pornographie und dem Geschäft mit Sex im Allgemeinen. Ich wiederhole: Haben die Behörden einen Plan, wie auf diese unheilvolle Entwicklung reagiert werden soll?«
Sigrún Þóroddsdóttir schaut zu Jóhann Hansen, der zu Ásgrímur Pétursson schaut. Im versteinerten Gesicht des Dorfkönigs ist auch keine Rettung in Sicht.
»Ausgerechnet Jóhann Hansen will unsere Kinder vor Drogen und Gewalt schützen?«, ruft eine Frau.
Die Antwort auf diese rhetorische Frage können alle Einwohner des Ortes auswendig: Jóhann Hansen konnte noch nicht mal seinen eigenen Sohn beschützen! Und jetzt müssen unsere Kinder vor seinem Sohn geschützt werden!
Im Saal wird geflüstert und gemurmelt. Niemand klatscht. Ich spüre, wie sich eine betretene Stimmung breitmacht. Die Leute sind der Meinung, dass dies ein Schlag unter die Gürtellinie war.
Jóhann Hansen schaut auf seinen Zettel und kritzelt mit zitternder Hand etwas darauf. Dann setzt er die Brille ab und putzt sie mit dem Ärmel seines Pullovers.
Der Abgeordnete der Radikalen durchbricht die betroffene Stille, erhebt sich von seinem Platz auf dem Podium und tönt: »Es ist gut zu hören, dass sich so viele Anwesende der knallharten Realität bewusst sind und die Position der Radikalen unterstützen. Von Anfang an, schon als die Regierungsparteien durch die ländlichen Gemeinden tingelten, um ihnen ihre Visionen von der Großindustrie schmackhaft zu machen, haben wir davor gewarnt, dass auf internationales Kapital auch internationale Probleme folgen werden …«
Er würde gern weiter Parteipolitik betreiben, wird aber von einigen Buhs im Saal zum Schweigen gebracht. Und dann geht die Stadtversammlung im Hotel Reyðargerði am Ostermontag in Gezänk zwischen den Marsmännchen aus der Hauptstadt über.
Ich schalte das Aufnahmegerät aus, stehe auf, nicke Hauptkommissar Höskuldur Pétursson zu, der direkt hinter mir sitzt, und drängele mich durch die Menschenmenge zur Hotelbar.
Dort stehen ein paar Jugendliche beisammen und rauchen. Zwei Männer mittleren Alters schwanken neben ihren Bierkrügen.
Am Ende der Theke steht ein junger Mann, der mir bekannt vorkommt, aber ich brauche erst einen Nikotinschub, bevor ich ihn erkenne. Es ist der Mann, der mit Agnar Hansen am Tisch saß und aufstand, als ich um eine Audienz bat. Er tut so, als sehe er mich nicht, vielleicht erkennt er mich aber wirklich nicht wieder.
Das Schlusswort des inzwischen blassen und zurückhaltenden Stadtratsvorsitzenden Jóhann Hansen lautet:
»Ich danke den Wahlkreisabgeordneten und allen Einwohnern von Reyðargerði und den benachbarten Gemeinden für ihr zahlreiches Erscheinen und die interessante Diskussion. Die Themen werden vom Gemeindevorstand weiterhin gründlich untersucht.«
»Die Versammlung ist beendet«, verkündet Sigrún Þóroddsdóttir und zieht ein Taschentuch zwischen ihren schweren Brüsten hervor.
WER SCHÜTZT UNSERE KINDER VOR INTERNATIONALER KRIMINALITÄT ?
fragten die Bewohner Reyðargerðis auf einer brisanten Stadtversammlung, bei der an die Verantwortung der Obrigkeit appelliert und die Zufriedenheit über den Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt von der Sorge über zunehmende soziale Probleme überdeckt wurde.
So beginnt mein Artikel, der gegen Abend bereit ist zur Verschickung übers Hochland in die Hauptstadt.
Ich hole tief Atem und knabbere an einem Stück frittiertem Hühnchen, das ich mir auf dem Weg zum Schrank bei einer internationalen Fastfoodkette gekauft habe.
Dann zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung: Leichenfund und Vermisstenmeldung.
In den Abendnachrichten im Radio verweigern die Polizeisprecher jegliche Aussage.
Ich rufe auf der Wache an, stelle mich vor und werde mit einer Dame verbunden, die jegliche Aussage verweigert.
Ich rufe wieder auf der Wache an, stelle mich vor und frage nach Ólafur Gísli Kristjánsson. Er ist nicht zu sprechen.
Nach kurzer Bedenkzeit gehe ich ins Treppenhaus und steige die abgetretene Holztreppe hinauf in die zweite Etage. Ein intensiver Blumenkohlgeruch mit einem Hauch von Knoblauch und Fisch, leises Bellen und das sanfte Rauschen des Wetterberichts im Fernsehen schlagen mir entgegen. Ich höre, dass es in der Nacht zuziehen und abkühlen soll.
Ich
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