Todesgott
Plätze auf dem Podium ein.
Dann eröffnet die Veranstaltungsleiterin Sigrún die Diskussion.
Im Saal herrscht betretenes Schweigen.
Die Redner scheinen zu erstarren, atmen dann aber auf.
Ich flüstere Jóa, die neben mir in der Saalmitte sitzt und ab und zu Fotos macht, gerade zu, dass ich den Artikel blind in meinem Schrank in Akureyri hätte schreiben können, als sich hinten im Raum eine Stimme erhebt. Ich werfe einen Blick über meine Schulter und sehe, wie eine ältere Frau zögernd, mit erhobener Hand aufsteht und sich als ortsansässige Hausfrau vorstellt.
»Ich habe mein Leben lang in Reyðargerði gewohnt«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Hab vier Kinder großgezogen und hab elf Enkelkinder. Von diesen fünfzehn Nachkommen wohnen nur noch drei hier. Aber lassen wir das, so ist nun mal der Lauf der Welt. Ich kann mich aber nicht damit abfinden, dass diejenigen, die noch hier wohnen, und wir alle, die wir hier wohnen, uns nicht mehr frei bewegen können, abends keinen Schritt mehr vor die Tür setzen können, geschweige denn am Wochenende, wegen der Randaliererei und der Pöbeleien, der Belästigungen und Drohungen, wenn nicht gar Handgreiflichkeiten von besoffenem und zugedröhntem Pack jeglicher Art, Isländer wie Ausländer. Bevor der Optimismus ausbrach, war das noch anders.«
Sie ist kurzatmig und verstummt, als würde sie vor innerer Anspannung keine Luft mehr bekommen.
Dann sagt sie: »Ich richte meine Worte nicht an die Marsmännchen aus der Hauptstadt, sondern an den Gemeindevorstand. Vielen Dank.«
Viele lachen. Verhaltenes Klatschen kommt auf, das nach und nach auf den gesamten Saal übergeht.
Die Leute auf dem Podium rutschen auf ihren Stühlen herum.
Jóhann Hansen fühlt sich offensichtlich unwohl. Er streicht sich mit zitternder Hand durch das feucht zurückgekämmte, grau durchwirkte Haar und zupft am Ausschnitt seines karminroten Pullovers herum, so als wolle er lüften. Nach kurzer Bedenkzeit bittet er um das Wort und tritt ans Rednerpult.
»Ich bin sehr dankbar für diese Frage und verstehe die Besorgnis«, sagt er mit ernstem Gesicht. »Diese Probleme werden von uns, den Ortsvorstehern, ständig diskutiert.«
Er zögert. Dann sagt er: »Wir werden die Sachlage weiterhin sorgfältig prüfen und versuchen, eine Lösung zu finden, mit der alle zufrieden sind.«
Sein Beitrag bekommt kaum Applaus. Sogar Ásgrímur Pétursson zuckt noch nicht einmal mit dem kleinen Finger.
»Die Diskussion ist weiterhin offen für alle«, sagt die Veranstaltungsleiterin und tritt hinter ihrem Pult auf der Stelle.
»Was wollt ihr gegen den zunehmenden Drogenstrom unternehmen?«, fragt eine Männerstimme irgendwo im Saal. »Sollen die oben beim Kraftwerk oder auf der Fabrikbaustelle oder auf den Straßen und in den Kneipen hier im Ort verkauft werden? Wie lange soll das noch so weitergehen?«
Sigrún Þóroddsdóttir steht immer noch am Pult und beschließt, selbst zu antworten. »Es wäre kindisch, zu glauben, dass Großprojekten wie diesem mit mehreren hundert Arbeitskräften aus aller Welt keine sozialen Probleme folgen würden. Das Opfergeld dafür wird …«
»Was heißt denn hier kindisch?«, fragt der Mann von eben aus dem Saal. »Waren die Behörden etwa so kindisch, dieses Opfergeld, wie die Bürgermeisterin es nennt, nicht mit einzukalkulieren?«
Er bekommt kräftigen Applaus.
»Wenn ich mal aussprechen darf …«, fährt Sigrún leicht verunsichert fort, »… so große Veränderungen in einem Ort fordern immer ein gewisses Opfer. Revolutionäre Veränderungen, sollte man besser sagen. Wir waren, sind und werden Zeugen einer Revolution des Lebensstandards und …«
»Ist dir etwa nicht bekannt, Sigrún«, ruft eine junge Frau, »dass regelmäßig Mädchenhändler aus der Hauptstadt herkommen? Ist sexuelle Versklavung etwa eine Sache, die die Behörden gutheißen?«
Ihr wird kräftigt applaudiert, aber nur von den im Saal anwesenden Frauen. Zwei von ihnen pfeifen auf den Fingern. Ein paar Männer grinsen und stoßen sich gegenseitig mit den Ellbogen an.
»Haben die Behörden eine Strategie entwickelt, wie man damit umzugehen gedenkt«, fragt ein älterer Mann ruhig, »wenn Reyðargerði zu einem Schauplatz internationaler organisierter Kriminalität wird? Damit meine ich nicht nur die Herabwürdigung, die mit dem anhaltenden Zustrom billiger Arbeitskräfte – wie man das nennt – einhergeht; mittellose Arbeiter, die kaum Rechte besitzen, für die sich niemand
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