Todesgott
bilde ich selbst keine Ausnahme. Ich zweifle, ob junge Isländer heutzutage überhaupt Heimatliebe empfinden, außer bei Fußballländerspielen oder wenn ein Isländer in ausländischen Medien in Erscheinung tritt oder ein isländisches Finanzkartell eine ausländische Firma kauft. In diesen Fällen kommt häufig die negative Form der Heimatliebe zum Vorschein: der Chauvinismus. Heimatliebe erscheint dann in Form von Konkurrenzdenken und Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern, aber nicht als aufrichtiges und inniges Gefühl für die eigene Nation. Mein Fazit ist, dass Chauvinismus letztlich das Gegenteil von Heimatliebe ist, so wie Egoismus das Gegenteil von Liebe ist.
Wir dürfen die Gaben, die unsere Heimat uns großzügig anvertraut, nicht nur entgegennehmen. Wir müssen ihr alles, was wir haben, zurückgeben. Wir müssen unser ganzes Leben lang dafür kämpfen, die isländische Nation zu aufrichtigen Menschen zu machen.
Spricht hier der neugeborene John F. Kennedy?, denke ich.
In dem zweiten Artikel geht es um die ländlichen Gebiete und die Landflucht in die Hauptstadt:
Die junge, ländliche Bevölkerung darf nicht tatenlos zuschauen, wie ihre sogenannten Retter – Großunternehmen aus dem Konsum-, Dienstleistungs-, Industrie- und Fischereisektor – die Kostbarkeiten der dünnbesiedelten Regionen für einen Spottpreis kaufen, um sie angeblich andernorts zu verarbeiten, sie ausquetschen und ausschlachten oder zu größeren Betrieben und Märkten transportieren, wo sie einen zigfachen Profit einbringen. Fördert diese Vorgehensweise etwa das Vertrauen und den Optimismus junger Menschen, in Zukunft noch auf dem Land leben zu wollen? Gewiss nicht, denn das ist ja auch nicht das Ziel. Das Ziel ist es, die Reichen reicher zu machen und für die Armen und Kleinen einen Dreck zu tun. Dieser Zweck heiligt alle Mittel. Im Grunde ist es erstaunlich, dass überhaupt noch junge Leute auf dem Land und in den Fischerdörfern leben. Bleibt zu hoffen, dass sie es deshalb tun, weil sie tief im Inneren wissen: Je näher sie an die Hauptstadt ziehen, je weiter sie sich von den ländlichen Gebieten entfernen, desto weiter entfernen sie sich von ihren Wurzeln, von dem Kern, der das Wesen der Isländer ausmacht.
Unter beiden Artikeln steht:
Der Autor ist Schüler am Gymnasium Akureyri und ein Verfechter der Zukunft Islands.
Die Artikel sind ungefähr ein Jahr alt. Irgendwie passt dieser uneigennützige Standpunkt nicht richtig zu dem Individualismus, den der Autor mir so leidenschaftlich bei unserem Gespräch über
Loftur
nahelegte. Dieser junge Idealist, der sich für die Heimat und die ländlichen Gebiete einsetzt, scheint auf den ersten Blick wenig gemein zu haben mit jenem Mann, dem Freiheit wichtiger ist als Disziplin und der bei einer Party in einem Hexengewand erscheint. Aber dann fällt mir wieder ein, wie schnell sich die Anschauungen der Menschen, ihr Lebensstil und ihre Lebenseinstellung in diesem Alter wandeln.
Vielleicht spielte Skarphéðinn Valgarðsson einfach gern, wie seine Schulkameradin es ausdrückte. Vielleicht hatte er das Bedürfnis, immer wieder in verschiedene Rollen zu schlüpfen.
Vielleicht meinte er das alles vollkommen ehrlich und ernst. Vielleicht begreife ich den Zusammenhang einfach nicht.
Aber mir fällt auch wieder ein, dass auf unserer Rückfahrt von Hólar über Varmahlíð nach Akureyri im Radio ein Wunschsong für Skarphéðinn und die Kids vom Theaterverein gespielt wurde:
Season of the Witch
. Darin geht es um den Drang, viele verschiedene Personen zu sein:
So many different people to be
That is strange, so strange …
Jedenfalls ist klar, dass nichts klar ist. Da ich schon einmal im Internetarchiv des
Morgenboten
bin, suche ich nach dem Namen Inga Lína. Ich kann mich nicht an den Nachnamen erinnern, und Inga Lína könnte auch ein Spitzname sein, denn ich bekomme keine Ergebnisse. Ich beschließe, mir bei nächster Gelegenheit noch einmal
Ritter der Straße
auszuleihen und genauer anzusehen.
In der heutigen Ausgabe des
Morgenboten
befinden sich indes drei Nachrufe auf Ásdís Björk Guðmundsdóttir, die ich interessiert, aber ohne auf etwas Neues zu stoßen, lese. Die Nachrufe sind ziemlich klischeehaft.
Ásdís Björk wird als rechtschaffene Frau beschrieben, die ihrem Ehemann und Sohn ein gutes Zuhause bereitet und sich aktiv an der Leitung des Familienbetriebs, der Süßwarenfabrik Nammi, beteiligt hat. Ich notiere mir sicherheitshalber den Namen des Sohnes, des
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