Todesgott
hat ein zartes, blasses Gesicht, einen roten Spitzbart und eine rote Haartolle.
Kjartan Arnarson erinnert eher an einen nicht mehr ganz jungen Musterknaben als an ein Lustobjekt für Schülerinnen. Er schaut mich fragend an.
Ich stelle mich mit demselben Sprüchlein wie beim Schuldirektor vor.
Kjartan lächelt verschämt. »Du hast ja dein Versprechen gehalten. Mehr war wohl nicht zu erwarten.«
Nach ein paar Worten über den Schock, den Skarphéðinns Tod an der Schule und bei seinen Mitschülern ausgelöst hat, frage ich Kjartan, ob er ihn kannte.
»Er war letztes Schuljahr in meinem Kurs. Ein tadelloser Schüler. Außergewöhnlich reif und intelligent. Vielseitig begabt, möchte ich fast sagen. Er war überall gleich gut; in Informatik, in Literatur und allen künstlerischen Fächern.«
»Und als Mensch? Wie würdest du seinen Charakter beschreiben?«
»Ich hatte außerhalb des Unterrichts nicht viel mit ihm zu tun«, antwortet Kjartan. »Aber er kam mir wie eine ›verwandte Seele‹ vor, wie man manchmal sagt. Mir fällt keine bessere Beschreibung ein, auch wenn ich das schwer erklären kann. Er hat sich für die isländische Vergangenheit und Geschichte begeistert …«
Er hockt sich auf den Rand des Lehrerpults. »In gewisser Weise kam mir Skarphéðinns Denkweise fast altertümlich vor. Er hat sich zum Beispiel ungemein für Hólar als ehemalige Hauptstadt des Nordlands und Hochburg der Lehre, als Vorläufer der Universität Islands interessiert. Wissen war für ihn sehr stark mit Macht und Fortschritt verbunden. Ungewöhnlich stark, finde ich, im Vergleich zu Gleichaltrigen, die meistens aufs Gymnasium oder eine weiterführende Schule gehen, um entweder dem Ehrgeiz und den Ansprüchen ihrer Eltern zu genügen oder weil ihre Freunde es auch tun oder weil ihnen nichts anderes einfällt.«
Er verstummt und schaut auf die Uhr. »Ich muss leider zu einer Besprechung. Hast du genug gehört?«
»Tja, ich weiß nicht«, erwidere ich. »Vielleicht können wir uns später noch mal unterhalten, falls mir noch was einfällt?«
Kjartan nimmt seine Aktentasche vom Lehrerpult und geht ein wenig x-beinig zur Tür. »Ja, warum nicht, aber wenn du Skarphéðinns Denkweise näher kennenlernen möchtest, kannst du auch mal ins Archiv des
Morgenboten
schauen. In der Zeitung sind letzten Winter zwei Artikel von ihm erschienen, einer über Regionalentwicklung und einer über Heimatliebe.«
Ich folge ihm in den Flur und sage zum Abschied: »Ich hoffe, dass dir die Sache mit der Frage des Tages nicht allzu viele Unannehmlichkeiten bereitet hat.«
Er lächelt wieder verschämt. »Ehrlich gesagt: Nach dem ganzen Aufruhr und der öffentlichen Entschuldigung habe ich auf einmal einen verdammt coolen Ruf.«
Am Ende dieses Arbeitstags schicke ich keine neue Meldung in die Hauptstadt. Ressortleiter Trausti Löve schnurrt und faucht abwechselnd wie eine Wildkatze, während ich den Hund seines Vorgängers aus der zweiten Etage unserer Niederlassung konfus jaulen höre. Als ich durchs Treppenhaus gehe, erklingt dumpfes Scheppern und Jammern.
»Aber Karó«, sagt Ásbjörn, »meine geliebte Karó, beruhige dich.«
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14
Freitag
Im Folgenden möchte ich den Begriff »Heimatliebe« in Augenschein nehmen, selbst wenn diese Abhandlung nur dem Zweck dienen sollte, aufrechte Gefühle für mein Heimatland in mir zu entfachen sowie das Bedürfnis, der Zukunft dieses Landes und seiner Menschen voll und ganz zu dienen.
Mit diesen Worten beginnt Skarphéðinn Valgarðssons Artikel im
Morgenboten
. Er schreibt weiter:
Wahre Heimatliebe sollte sich vor allem in Opferbereitschaft ausdrücken – dass wir unsere Kräfte, unsere Gesundheit, unser Kapital und unsere materiellen Annehmlichkeiten opfern, all das, was uns wichtig ist, für die Heimat opfern, sogar unser Leben. Das Ziel soll sein, die Nation zu lehren, die Wahrheit zu erkennen und zu lieben und sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten: nichts Eigennütziges zu tun, wenn man nicht sicher ist, dass es auch der gesamten Bevölkerung, dem Heimatland zugutekommt. Unser Zusammenleben auf Gerechtigkeit und Liebe aufzubauen. All unsere Kräfte dafür einzusetzen, dass Island ein Ort wahren Glücks, individueller und gesellschaftlicher Entwicklung, Gleichheit, Brüderlichkeit und vor allem Freiheit wird.
Falls das Obengenannte eine korrekte Definition von Heimatliebe ist, wird deutlich, dass junge Leute meiner Generation nicht sehr viel Zeit in deren Dienst stellen. Dabei
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