Todesgott
Querschnitt sämtlicher Moderichtungen im Hinblick auf Kleidung und Frisur: Kurzhaarschnitte, Haarpomade, Hochfrisuren, Pilzköpfe, Hippielook, Discoqueens und so weiter bis heute, wo alles erlaubt ist. Hier finden sich auch Fotos der Schultheateraufführungen, auf denen die Schüler Freud und Leid darbieten, meist jedoch Freude, wie mir scheint. Ob hier irgendwann einmal ein Bild von der
Loftur
-Aufführung hängen wird?
Nachdem ich durch die Gänge gewandert bin und die Zeichen der Zeit an den Wänden betrachtet habe, naht schließlich die Viertelstunde heran, die der Schuldirektor mir in seinem dichtgedrängten Zeitplan zur Verfügung stellen konnte. Ich habe es sogar fertiggebracht, die unangenehme Sache mit der Frage des Tages und Kjartan Arnarson und Sólrún Bjarkadóttir anzusprechen, und die Erklärungen aus Traustis Entschuldigungsschreiben auf der ersten Seite wiederholt. Durch meine Initiative konnte ich zwar eine lange, jedoch nicht eine kurze Schimpftirade über Skandaljournalismus und die Verantwortungslosigkeit der Medien verhindern.
Stefán Már Guttormsson ist ungefähr vierzig Jahre alt, groß, schlank, Geheimratsecken, glattrasiertes Gesicht, und trägt einen altmodischen Zwicker auf seiner Knollennase. Gemächlich erhebt er sich von seinem Schreibtisch und bietet mir einen Stuhl an.
»Tragische Geschichte«, sagt er leicht nuschelnd. »Wir sind alle entsetzt. Wir haben am ersten Schultag nach Ostern den Unterricht ausfallen lassen und tun unser Bestes, den Schülern, die offen dafür sind, über den schlimmsten Schock hinwegzuhelfen.«
»Hast du Skarphéðinn gut gekannt?«
»Nein, kann ich nicht sagen. Er gehörte nicht zu denjenigen, denen ich den Knochen zeigen musste.«
Er schaut sich in seinem Büro um. »Du kennst doch die Redewendung ›jemandem den Knochen zeigen‹, oder?«
»Ja, selbstverständlich«, antworte ich. Schließlich ist es noch gar nicht so lange her, dass dem Ressortleiter auf meine Veranlassung hin der Knochen gezeigt wurde.
»Sie stammt von einem Walknochen, der lange Zeit im Büro des Direktors hing. Wenn Schüler zu ihm gerufen und bestraft wurden, weil sie undiszipliniert waren, sprach man davon, dass ihnen der Knochen gezeigt wurde.«
»Das wusste ich allerdings nicht«, sage ich.
»Obwohl der Walknochen nicht mehr hier hängt, heißt das nicht, dass keine Disziplin und Ordnung mehr herrscht«, fährt der Direktor fort und schaut mich streng an.
»Nun denn.«
»Im Gegenteil – hier herrscht große Disziplin. Wir blicken auf eine lange Tradition zurück; dieses alte Schulgebäude steht auf dem Landnahmeboden Eyrarland. Wir sind stolz auf unsere lange Geschichte und Tradition. Sämtliche Freizeitaktivitäten der Schüler sind alkohol- und drogenfrei. Bei unserer Jahresfeier wird weder Alkohol getrunken noch geraucht. Rauchen ist überall verboten, in den Gebäuden und auf dem gesamten Gelände.«
Na prima, denke ich und überlege, ob sich dieses prächtige Bild mit der Entwicklung einzelner Schüler dieser Schule vereinbaren lässt. Die Beschreibung ist jedenfalls weit von meinen eigenen schillernden Erfahrungen der Freizeitgestaltung von Gymnasiasten entfernt. Zu meiner Zeit lag der Ehrgeiz darin, zu trinken, zu rauchen und alles auszuprobieren, was es gibt.
Ich weiß nicht, ob ich die Skepsis in meinem Gesicht verbergen kann, aber der Direktor schaut mich noch strenger an als zuvor. »Überrascht dich das?«
»Ja, zugegebenermaßen. Meine eigene Zeit im Gymnasium war nicht gerade von Askese gekennzeichnet.«
Er entspannt sich ein wenig. »Ich spreche nicht von Askese, sondern von Selbstdisziplin und Mäßigung. Wir appellieren an das Verantwortungsgefühl unserer Schüler, aber wir haben keine Moralpolizei, die durch die ganze Stadt patrouilliert.«
Ich nicke, immer noch skeptisch.
»Aber es ist wichtig, dass die Schulführung alles in ihrer Macht Stehende tut, um die Schüler vor den Gefahren, denen die junge Generation in diesem Land ausgesetzt ist, zu bewahren. Oder bist du da anderer Meinung?«
»Was? Nein, nein. Ich bin mir nur ziemlich sicher, dass niemand junge Menschen vor ihrer eigenen Neugier schützen kann. Jeder Mensch muss verschiedene Dinge austesten, bevor er seine eigenen Grenzen findet.«
Stefán Már wirkt nachdenklich. »Ich denke, in gewisser Weise hast du recht. Aber es ist unsere Pflicht, das Augenmerk unserer jungen Schützlinge auf das Positive in ihrer Umgebung zu lenken und gleichzeitig den Reiz des Negativen,
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