Todesgott
Schädlichen oder gar Lebensgefährlichen zu mindern. Das Gymnasium Akureyri war beispielsweise eine der ersten Schulen im Land, die für ihre Schüler ein spezielles Präventionsangebot eingerichtet hat.«
Zu meiner Zeit wäre ein Drogenberater im Gymnasium ausgelacht und bis an den Fuß der Esja davongejagt worden. »Und dir ist nicht bekannt, ob Skarphéðinn Valgarðsson dieses Angebot in Anspruch genommen hat?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich kann dir versichern, dass er weit davon entfernt war. Das wird dir der Präventionsbevollmächtigte der Schule bei Bedarf bestätigen, wobei wir natürlich keine vertraulichen Dinge über die privaten Probleme unserer Schüler weitergeben. Skarphéðinn Valgarðsson war ein gutes Vorbild für alle jungen Leute. Umso bedauerlicher ist sein tragisches Schicksal.«
»War er ein guter Schüler?«
»Das kann ich besten Wissens und Gewissens sagen. Skarphéðinn hat den sozialwissenschaftlichen Zweig besucht und hatte hervorragende Noten. Aber darüber wissen die Lehrer und Fachberater mehr. Leider bin ich als Schuldirektor nicht in der Lage, die Entwicklung aller unserer Schützlinge genau zu verfolgen; wir haben um die sechshundert Schüler. Am ehesten landen die Ausnahmefälle auf meinem Tisch, diejenigen, die aus irgendwelchen Gründen Schwierigkeiten haben. Wir sind stolz darauf, dass die Abbrecherquote im Gymnasium Akureyri eine der niedrigsten im ganzen Land ist. Sie liegt nur bei ungefähr 2,5 Prozent.«
Er wird langsam ungeduldig.
»Soweit ich weiß, stammte Skarphéðinn aus Akureyri, wohnte aber nur während des ersten weiterführenden Schuljahres bei seinen Eltern. Dann zog er ins Internat und letzten Herbst in eine Wohnung in der Stadt. Hast du dafür eine Erklärung?«
»Erklärung? Warum er von zu Hause ins Internat und dann in die Stadt gezogen ist?«
»Ja, genau.«
»Nein. Ich bin nicht erpicht darauf, das Privatleben der Schüler zu verfolgen. Das Gymnasium Akureyri ist die größte Internatsschule des Landes. Sie wird ungefähr zur Hälfte von Schülern aus Akureyri und zur Hälfte von auswärtigen Schülern besucht. Wo sie wohnen, ist ihre private Angelegenheit, solange sie sich an die Disziplin und die Regeln der Schule halten.«
»Könnte man daraus schließen, dass ein Schüler, der sich für eine Wohnung in der Stadt entscheidet, größere Freiheit und geringere Disziplin anstrebt?«
»Meinetwegen«, antwortet Stefán Már kurz angebunden.
Im Sekretariat erhalte ich eine Liste der Angestellten der Schule. Daraus geht hervor, dass Kjartan Arnarson im sozialwissenschaftlichen Zweig unterrichtet. Ich rufe seine Dienstnummer an. Niemand antwortet, aber die Sekretärin sagt mir, er habe laut Stundenplan in einer halben Stunde frei. Der sozialwissenschaftliche Unterricht finde im neuesten Gebäude der Schule statt: in
Hólar
, das nach Hólar im Hjaltatal benannt sei. »Nach der ersten allgemeinen höheren Schule in Island«, erklärt mir die Sekretärin. »Vor neunhundert Jahren gegründet.«
Ich wandere weiter durch die Gänge der Schule. Vom alten Schulhaus schlängelt sich ein Pfad nach
Hólar
; das Gebäude scheint der Mittelpunkt der Schule zu sein. Hier herrschen andere Dimensionen: große Unterrichts- und Arbeitsräume, eine geräumige Bibliothek, eine weitläufige Aula im Erdgeschoss und ein Foyer in der ersten Etage, wo auch eine Garderobe und Schließfächer für die Schüler untergebracht sind.
Die Jugendlichen, die die Eingangshalle durchqueren oder bei einem Imbiss zusammensitzen, sind so individuell gekleidet und frisiert, wie sie zahlreich sind, denn heutzutage ist alles erlaubt. Allerdings kommt es mir seltsam vor, dass viele von ihnen Hausschuhe tragen. Das weckt die unangenehme Erinnerung an Ásbjörns grüne Schlappen in mir. Ich muss gestehen, dass ich noch nie verstanden habe, warum Leute, die auf der Arbeit Hausschuhe tragen, nicht einfach zu Hause bleiben. Aber das ist wohl mein Problem.
Ich warte vor Kjartans Unterrichtsraum, bis die Tür aufgeht und die Schüler herausströmen. Sie sehen alle ziemlich ernst aus. Als der Letzte gegangen ist, schlüpfe ich hinein. Der Lehrer wischt gerade irgendwelche Sätze von der Tafel.
Kjartan ist ganz anders, als ich ihn mir in Anbetracht des Vorfalls und seiner jungen Stimme vorgestellt habe: etwa Mitte vierzig, klein und in einem braunen, verschlissenen Cordanzug mit einer schmalen Schleife, die wie ein Schnürriemen unter seinem abgetragenen, grauen Hemdkragen zugebunden ist. Er
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