Todeshaus am Deich
Seelig machte nicht den gepflegtesten Eindruck. Und
die leicht schmuddelige Erscheinung wurde durch die kräftigen Haarbüschel, die
sich aus Ohren und Nase den Weg ins Freie bahnten, noch unterstrichen. Daher
hatte ihm irgendjemand den Spitznamen »Dirty Harry« verpasst, den Irina
Schmidt, die Babuschka, anders interpretierte.
Christoph reichte
ihr die Hand, dankte ihr für die Auskunft und wünschte ihr noch einen schönen
Tag. Als er auf den lichten Flur hinaustrat, lehnte Friedrich Kubelka am
Handlauf, der auf beiden Seiten des Ganges angebracht war, und sah Christoph
herausfordernd an.
»Ich habe Sie kommen
sehen. Schwester Anke hat mir gesagt, dass Sie mit der Schmidt sprechen.«
Christoph war mit
einem Schlag hellhörig geworden. Niemand hatte die Frau in der Küche bisher bei
ihrem Nachnamen genannt. Alle sprachen nur von der Babuschka.
»Ich habe mit der
Babuschka gesprochen«, sagte Christoph betont.
»Babuschka! Pah! Die,
die die Russlanddeutsche so nennen, denken nicht darüber nach, dass mit dieser
Bezeichnung eine russische Großmutter benannt wird. Aber wir sind hier in
Deutschland! Warum kommt das ganze Volk aus dem Osten hierher? Als wenn wir
etwas zu verschenken hätten. Und wenn wir die alle mit durchschleppen müssen,
bleibt weniger zu verteilen. Und wer muss das ausbaden?« Er tippte sich mit dem
Zeigefinger gegen die Brust. »Das geht zu unseren Lasten! Wir! Die wir
Jahrzehnte in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Und was bleibt uns?«
Christoph musterte
den Mann. Sein Alter war schwer einzuschätzen.
»Wir Alten waren es,
die vieles durchgemacht und dieses Land wieder aufgebaut haben, es zu dem
gemacht haben, was die heutige Generation verprasst und ohne Sinn und Verstand
vernichtet. Niemand von denen begreift, dass sie unser Geld, das, was
wir Älteren erarbeitet haben, denen aus dem Osten oder aus dem Busch in den
Hals werfen.«
»Darf ich Ihren
Worten entnehmen, dass Sie noch Kriegsteilnehmer waren? Dann wissen Sie sicher
auch, welches Leid von uns in die Welt hinausgetragen wurde. Ist es da nicht
eine Frage der Gerechtigkeit, wenn wir von unserem Wohlstand etwas abgeben?
Schließlich haben es andere Völker auch gemacht. Denken Sie allein an die
Carepakete, die nach dem Krieg auch Ihnen das Überleben gesichert haben.«
Kubelka schob
sichtbar seine Zahnprothese im verschlossenen Mund hin und her, bevor er
antwortete.
»Wieso soll ich mit
meiner Arbeit für die anderen aufkommen? Warum können die nicht selbst
arbeiten? So wie wir damals? Außerdem fühle ich mich für das Gewesene nicht
verantwortlich. Ich bin Jahrgang dreiunddreißig.«
Christoph zeigte den
Hauch eines Lächelns um seine Mundwinkel, als ihm durch den Kopf ging, was
Große Jäger jetzt geantwortet hätte: Das ist ein Jahrgang, in dem noch ein paar
andere unsympathische Dinge das Licht der Welt erblickt haben.
Der spöttische Zug
in Christophs Mienenspiel verärgerte Kubelka noch mehr.
»Nehmen Sie doch
diese aggressive Beckerling. Ständig hat dieses senile Weibsstück provoziert
und ist einem mit ihrer Gehhilfe in die Hacken gefahren.« Demonstrativ hielt
Kubelka seinen Stock hoch. »Glauben Sie, ich trage dieses Ding aus Eitelkeit?
Aber was wollen Sie von einer alten Jungfer schon erwarten, die sich als
Lehrerin vor den Herausforderungen des Lebens gedrückt hat?«
»Wann haben Sie Frau
Beckerling zuletzt gesehen?«
»Wann – wann?«,
schimpfte Kubelka erregt. »Gottlob ist mir die Alte schon länger nicht mehr
begegnet. Ich bin auch nicht traurig drum, wenn sie nicht mehr auftaucht.« Er
zog die Augenbrauen in die Höhe und sah Christoph an.
»Damit haben Sie
meine Frage noch nicht beantwortet.«
Kubelka beschrieb
mit seiner rechten Hand, in der er den Stock hielt, einen Halbkreis in der
Luft. »Was weiß ich denn? Muss ich auf solche Dinge achten? Hier ist doch jeder
Tag wie der andere. Da verlieren Sie langsam den Überblick. Fragen Sie doch den
Hasenteuffel. Der tut immer so, als wenn er über alles erhaben wäre. Der bläst
sich auf, als wäre er der Feldherr selbst. Dabei hat dieser Mensch während
seiner aktiven Militärzeit keinen einzigen scharfen Schuss abgegeben,
geschweige denn einem Feind gegenübergestanden. Ach, ihr könnt mich alle mal
…«, schimpfte er, drehte sich um und ging, sich betont auf seinem Stock
abstützend, davon, ohne Christoph noch eines Blickes zu würdigen.
Bedächtig folgte
Christoph Kubelka, der das Foyer durchquerte und im gegenüberliegenden
Gebäudeflügel
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