Todeshaus am Deich
Nordfriesland gut in diesen
Tagen. Es war zwar noch kühl, aber die dünnen, schnell landeinwärts treibenden
Wolken am blauen Himmel und die klare, würzige Luft hatten die Menschen ins
Freie gelockt. Die Stadt war geradezu übervölkert von Besuchern, die
individuell angereist oder durch Touristikunternehmen von nah und fern
herbeigeschafft worden waren, um das einmalige Wunder der Krokusblüte im
Schlosspark zu erleben. Auch wenn Husum über vielerlei Attraktivitäten verfügte,
war die blau-violette Blütenpracht der Millionen Krokusse der Besuchermagnet
dieser Jahreszeit.
Mommsen ließ seinen gelben Mini im Schritttempo durch
die Norderstraße rollen. Ungeachtet des spärlichen Autoverkehrs drängten die
Leute auf die Fahrbahn. Sie kamen aus dem Schlossgang und überquerten die
Straße, um zum Marktplatz mit dem Tinebrunnen zu gelangen. Sie schlenderten
durch die kleine Fußgängerzone zum Binnenhafen und von dort weiter zu den am
Hafenrand angesiedelten Gastronomiebetrieben. Sie strebten zu den schon lange
nicht mehr mobilen Fischbuden.
Auch auf dem Stück zwischen dem alten Rathaus und dem
Palmengarten am Ende der Großstraße wimmelte es von Menschen.
Plötzlich kam aus der Geschäftstelle der Kreisparkasse
ein älterer Mann mit Stock herausgeschossen und sprang Mommsen vor das Auto. Er
musste den Wagen gesehen haben, denn er schwang seine Gehhilfe schon drohend in
Mommsens Richtung, bevor er auf die Fahrbahn hüpfte. Es war weder eine
gefährliche noch für den jungen Kommissar unabsehbare Situation. Er bremste ab,
ohne den Mann zu gefährden. Der überquerte die Straße, drohte noch einmal mit
seinem Stock und schimpfte lauthals etwas, das Mommsen nicht verstand.
Dieses Verhalten war nahezu typisch für den oftmals
jähzornig auftretenden Friedrich Kubelka, der es gar nicht gern hörte, wenn ihn
Kapitän Thordsen und dessen Schatten Harry Seelig kurz »Fiete« nannten.
Kubelka drängte sich durch die müßig dahintrottenden
Passanten, rempelte Leute an, die ihm nicht umgehend aus dem Weg gingen, und
konnte nur aufgrund seines Alters und der durch Sonne und Krokusblüte mild
gestimmten Gemüter froh sein, dass ihm zornige Erwiderungen anderer Menschen
erspart blieben.
In einem für seine beeinträchtigte Fortbewegung
erstaunlichen Tempo bog er um die Ecke in die ruhigere Hohle Gasse Richtung
Schiffbrücke ein.
Mommsen beobachtete interessiert, wie der Mann die
ganze Distanz zwischen dem Palmengarten und der nächsten Querstraße benötigte,
um die Fahrbahn der Hohlen Gasse schräg zu überqueren.
Eigentlich gab es keinen Grund, Kubelka bei seinem
Stadtspaziergang besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Trotzdem ließ Mommsen
seinen Mini langsam hinterherrollen, als er sah, dass der alte Mann in die
ruhige Rosenstraße abbog. Dort gab es keine Geschäfte, und die kleine gemütliche
Gasse mit den niedrigen gepflegten Häusern führte auch zu keinem anderen Ziel,
das von allgemeinem Interesse gewesen wäre. Nun war Mommsen Neugierde doch
geweckt.
Kubelka humpelte über das holprige Pflaster und
ignorierte auch die Zufahrt zum Parkplatz auf der rückwärtigen Seite des
Palmengartens. Mommsen hatte ein Problem, weil die Straße ab hier Einbahnstraße
war und ihm die Weiterfahrt untersagt war. Kurz entschlossen wendete er den
Mini und wollte rückwärts in die Gasse hineinfahren, als er bemerkte, dass
Fiete Kubelka in einem kleinen Haus auf der linken Straßenseite verschwand.
Ein breites Grinsen überzog Mommsens Gesicht. Es war
nahezu romanhaft. Mit etwas Phantasie konnte man sich vorstellen, dass der Mann
in der Sparkasse Geld abgehoben hatte und im Eiltempo, so schnell es Alter und
Gehbehinderung zuließen, hierhereilte. Jeder Einheimische kannte das Haus mit
den roten Laternen.
Verkehr herrschte keiner, zumindest nicht auf der
Straße. So konnte Mommsen rückwärts am besagten Haus vorbeifahren und zwei
Türen weiter parken. Er stellte den Motor ab und stellte sich auf eine längere
Wartezeit ein. Doch bereits nach zehn Minuten verließ eine blonde Frau mit
gewagt kurzem Rock das Gebäude und kam zielstrebig auf den Mini zu. Sah sie auf
Distanz sehr jung aus, so wuchs ihr Alter mit jedem Schritt, den sie sich
näherte. Das änderte aber nichts an ihrer Attraktivität. Sie baute sich neben
Mommsens Wagen auf. Der ließ die Scheibe in der Tür versinken.
»Na?«, fragte sie mit kehliger Stimme. »Was gibt es
Spannendes zu beobachten, Kleiner? Traust du dich nicht in den Puff, oder bist
du von der
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