Todeshaus am Deich
wissen, dass die Nichte wirtschaftlich ein normal-bürgerliches Leben
führt.« Christoph schüttelte den Kopf. »Nein, Wilderich. Ich glaube nicht
daran, dass Trude Beckerling aus Habsucht in den Tod getrieben wurde.«
»Was sollte sonst für ein Motiv vorliegen?«
»Darüber zerbreche ich mir auch schon eine Weile den
Kopf. Ich sehe immer noch keine Zusammenhänge zwischen dem Tod der drei alten
Leute.«
»Aber du vermutest ihn?«
»Ja. Nur beweisen kann ich nichts. Ich gestehe, einen
leisen Verdacht gegen von Hasenteuffel gehegt zu haben. Aber das ist nun
hinfällig, wo er selbst zum Opfer geworden ist«, sagte Christoph.
»Dann denk mal schön weiter«, brummte Große Jäger und
nahm wieder seine Lieblingsposition ein.
Christoph wühlte sich durch die Papierberge, die auf
Erledigung warteten. Hin und wieder hob er den Kopf und sah auf den Rücken des
Oberkommissars. Der hatte seinen Kopf gesenkt und hielt schon eine ganze Weile
einen geschlossenen Aktendeckel in seinen Händen, ohne umzublättern. Selbst der
Griff zum Kaffeebecher oder zur Zigarette war längere Zeit nicht erfolgt.
Richtig! Wenige Augenblicke später erfüllten gleichmäßige und zufrieden
klingende Töne den Raum. Büroarbeit war noch nie die Sache des Kollegen
gewesen. Dabei ging es nicht ohne. Christoph fiel ein alter Spruch ein, den er
einmal auf der Innenseite einer Toilettentür gelesen hatte: A job is never
finished until the paperwork is done.
Mit einem Seufzer nahm er den nächsten Vorgang zur
Hand und wühlte sich durch die Papiere. Bevor du nach Husum gekommen bist, war
die Bewältigung administrativer Tätigkeiten deine Hauptaufgabe, dachte er. Und
jetzt fängst du auch langsam an, dich über die Bürokratie zu beklagen. Ob es
das »Große-Jäger-Virus« ist, das dich erwischt hat?
Das Schnarren seines Telefons empfand er nicht als
Störung, sondern als willkommene Unterbrechung. Der Kollege vom Empfang
kündigte den Besuch einer Frau an. Wenig später betrat Schwester Regina den
Raum. Obwohl sie nahezu bedächtig geklopft hatte, zuckte Große Jäger dermaßen
zusammen, dass er fast vom Stuhl gerutscht wäre.
»Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass ich noch
einmal zu Ihnen komme«, sagte die Frau fast schüchtern. »Aber die merkwürdigen
Dinge, die sich bei uns ereignen, haben mich – ehrlich gesagt – verunsichert.«
Sie lehnte den angebotenen Kaffee ab. Christoph war
nicht traurig darüber, da die Kanne ohnehin leer war und er neuen hätte
organisieren müssen.
»Ich habe mir meine Gedanken gemacht. Die alten Leute
haben es nicht einfach. Beim Autofahren werden sie verspottet und beschimpft.
Hinter ihnen wächst die Ungeduld, wenn sie an der Kasse im Supermarkt nicht
schnell genug das Kleingeld sortiert bekommen. Mir wurde erzählt, dass sie auf
der Rolltreppe im Kaufhaus zur Seite gestoßen wurden.« Sie lächelte fast ein
wenig weise. »Einige der Männer gehen gern zu McDonald’s. Auch dort sind sie
schon beschimpft worden, weil sie nachgefragt oder zu lange über ihre
Bestellung nachgedacht haben. Die jungen Leute begreifen nicht, dass ältere
Menschen nicht unbedingt das lesen können, was in greller Schrift oben
angeschlagen ist.«
»Das ist alles richtig, Frau ähhh«, sagte Christoph,
als ihm klar wurde, dass sie immer noch nicht die Nachnamen des Personals
aufgenommen hatten.
»Sagen Sie ruhig Schwester Regina. So nennen mich
alle.«
»Ist es üblich, alle weiblichen Bediensteten des
Altersheimes so anzureden?«
»Nein«, erklärte sie. »So werden die examinierten
Krankenschwestern angesprochen. Die anderen werden mit Fräulein angeredet, zum
Beispiel Fräulein Doris.«
»Es ist heute nicht mehr üblich, eine Frau mit
Fräulein anzusprechen.«
»Bei uns schon. Die Bewohner stammen aus einer Zeit,
als die Nachbarin noch ›Tante Schmidt‹ hieß. Darum verstehe ich auch, dass bei
vielen alles, was nicht Heino und Konsorten ist, als ›Negermusik‹ verschrien
ist. Heino ist nur ein Beispiel«, versicherte sie und unterstrich diese
Feststellung mit Gebärdensprache. »Natürlich hören die Leute auch Knut
Kiesewetter, Fiede Kai oder Godewind. Aber auch Klassik wie Strauss«, schob sie
hastig hinterher. »Dabei werden sie oft angemacht. Nutzlose Fresser, die zu
viel Geld haben und sich Urlaube und alles andere leisten können. Und dann
leben die alten Menschen zu lange, verschlingen für ihre Behandlung Unsummen an
Kosten. Solche Vorurteile deprimieren, denn die Menschen in einem Altersheim
sind nicht
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