Todeshunger
Blick und sehe zum ersten Mal deutlich das vom Feind besetzte Stadtzentrum. Als Silhouetten im letzten goldgelben Licht der untergehenden Sonne machen die hohen Gebäude im Zentrum einen stolzen und trotzigen Eindruck. Selbst von hier, aus einer Entfernung von mehreren Meilen, stelle ich fest, dass reges Treiben in dem Flüchtlingslager herrscht. Flugzeuge und Helikopter schwirren am dunklen Himmel dahin wie Fliegen um den Kadaver eines toten Tieres. Die Tatsache, dass in einigen Gebäuden Licht brennt, überrascht mich.
Die haben immer noch Strom! Keith fährt weiter. Ich lasse die Gebäude in der Ferne nicht aus den Augen und beobachte sie, bis sie aus meinem Blickfeld verschwinden.
»Alles klar?«, fragt Paul, dem nicht entgeht, wie sehr ich den Hals verdrehe.
»Prima«, antworte ich hastig und hoffe, dass er mein Unbehagen nicht bemerkt. Dort müssen sich Zehntausende Unveränderte aufhalten, und ich weiß, jeder Einzelne davon muss sterben, bevor dieser Krieg zu Ende ist. Als ich ihre Innenstadtfestung sehe, begreife ich, welch gewaltige Aufgabe noch vor uns liegt. Mir wird klar, dass Chris Ankin recht haben könnte. Wir müssen zusammenarbeiten, wenn wir diesen Gegner besiegen wollen.
11
N ach links und dann schnurgerade zum Ende dieser Straße rauf«, sage ich zu Keith, doch meine Stimme ist so leise, dass ich es zweimal wiederholen muss, bis er mich hört. Wir sind jetzt ziemlich nahe. Diesen Weg bin ich immer gegangen, wenn ich am Abend von der Arbeit nach Hause gekommen bin. Wenn wir um die Ecke biegen, kann ich das Mietshaus auf dem Hügel sehen. Ich wappne mich, da ich mich nicht auf die Rückkehr freue. Plötzlich bremst Keith den Transporter ab und wartet. Wir sind jetzt doch gezwungen, die Scheinwerfer einzuschalten, und die hellen Lichtstrahlen zeigen huschende, hektische Bewegungen auf der Straße vor uns. Schweigend beobachten wir, wie eine Meute streunender Hunde auf der Suche nach Futter durch die Ruinen streift. Früher waren sie vermutlich träge, wohlgenährte, verhätschelte Haustiere, doch inzwischen sind sie nervöse, ausgemergelte und wilde Geschöpfe. Einer, eine räudige braune Promenadenmischung mit vorstehenden Rippen und verfilztem Fell, bleibt mitten auf der Straße stehen und sieht den Transporter trotzig und mit gespitzten Ohren an, während sich das Licht in seinen Augen spiegelt. Die Konfrontation dauert nur wenige Sekunden, dann veranlasst etwas Interessanteres den Hund, sich umzudrehen und dem Rudel hinterherzuhecheln.
Als die Störung beseitigt ist, fährt Keith weiter; Sekunden
später erblicke ich das Haus, wo ich mit Lizzie und den Kindern gewohnt habe. Im Winter konnte ich von hier die erleuchteten Fenster sehen und manchmal auch die Schatten der Kinder, wenn sie von Zimmer zu Zimmer rannten und ihre Mutter völlig auf die Palme brachten. Das alles muss ich jetzt vergessen, aber es fällt mir schwer. Je näher wir kommen, desto mehr setzt mir der vertraute Anblick zu – wie ein Schlag in den Magen. Und gleichzeitig verspüre ich einen ekelerregenden Abscheu – fast Scham – darüber, dass ich jemals dazugehört habe. Unglaublich, dass ich mich so lange in einem derart kläglichen, reglementierten und sinnlosen Leben gefangen halten lassen konnte.
»Reizendes Plätzchen«, knurrt Paul sarkastisch, während er die arg mitgenommenen Überreste des verwahrlosten Gebäudes betrachtet, das ich einst mein Zuhause nannte. Es ist eine klare Nacht, das helle, aber begrenzte Licht des Mondes erhellt sämtliche Details, die ich eigentlich lieber nicht sehen wollte.
»Hat sich kaum verändert«, sage ich halb scherzhaft. »So übel hat es schon vor den Kampfhandlungen ausgesehen.«
Ein weiterer Helikopter fliegt über uns dahin; das konstante Wummern der Rotoren kann man sogar über das Motorenklappern dieses uralten Transit hören. Die anderen werfen nervöse Blicke nach oben, wo er hoch über uns kreist, wendet und in die Richtung zurückfliegt, aus der er gekommen ist, aber ich achte kaum darauf. Ich konzentriere mich ausschließlich auf das dunkle Mietshaus, dem wir uns rasch nähern, und frage mich, was zum Teufel ich im Inneren finden werde. Ich weiß, dass Ellis nicht da ist. Ich will nur eine Spur von ihr finden; einen
Hinweis, wie geringfügig oder nebensächlich er auch sein mag, wohin die sie gebracht haben.
Keith parkt den Transporter im Schatten dicht neben einem hohen Holzzaun und macht den Motor aus. Noch zwei Helikopter ziehen über uns hinweg. Verfolgen die
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