Todeshunger
und beugt sich über mich. »Sie brauchen etwas Zeit, damit Sie über Ihre missliche Lage nachdenken können. Sie haben jegliche Kontrolle verloren, Sonnenschein. Was mit Ihnen geschieht, liegt jetzt ganz in meiner Hand.«
Er blickt noch einen Moment auf mich herab. Ich halte seinem Blick stand und bin fest entschlossen, nicht als Erster aufzugeben. Nach ein paar Sekunden, die mir wie Minuten vorkommen, richtet er sich auf und geht zur Tür.
»Heute Abend vergeude ich keine Zeit mehr mit Ihnen. Ich habe Hunger. Wir haben gute Vorräte hier, bessere als die meisten. Ich gehe mir jetzt was zu essen und zu trinken holen und dann schlafen. Es war schön, mit Ihnen zu reden.«
Damit geht er hinaus und nimmt die Lampe mit. Mit einem lauten Poltern zieht er die Tür zu und sperrt sie ab. Ich höre, wie sich seine Schritte entfernen. Die anschließende
Stille ist ohrenbetäubend und wird nur vom gelegentlichen Motorenlärm eines weit entfernten Helikopters oder Flugzeugs und dem konstanten Tröpfeln von Wasser in der Ecke unterbrochen.
Es ist pechschwarz in dem Zimmer, kein bisschen Licht. Die Art von Dunkelheit, an die sich die Augen nie gewöhnen.
Wer zum Teufel ist Joseph Mallon? Ist er allein hier? Nur ein einsamer Irrer, der sich aufbäumt, oder gehört er zu einer größeren Organisation?
Mein Magen knurrt erneut vor Hunger, das Jucken im rechten Knie fängt wieder an. Wenn ich mich nur kratzen könnte! Es fühlt sich an, als würde mir jemand einen Fingernagel ins Fleisch bohren.
19
I ch höre einen Schrei in der Dunkelheit, kann aber nicht sagen, ob er von irgendwo in diesem Gebäude oder von außerhalb kommt. In der schwarzen Finsternis hat alles seine Form und Schärfe verloren. Ich habe keinen Begriff mehr von der Zeit oder wie lange ich hier bin. Ich habe versucht, die Tropfen zu zählen, doch mein übermüdetes Gehirn verliert den Überblick, und inzwischen kommt mir jedes einzelne Tröpfeln wie ein Hammerschlag auf den Schädel vor. Ich kann nicht mehr still liegen, aber ich kann mich auch nicht bewegen. Jedes Mal, wenn ich an den Ketten ziehe, scheinen sie noch enger zu werden.
Ich weiß nicht, wie lange es her ist, seit ich zum letzten Mal etwas getrunken habe, aber meine Blase füllt sich ständig. Ich möchte nicht rufen und mich der Gnade von Joseph Mallon oder einem anderen unveränderten Abschaum hier ausliefern. Das will er. Er will, dass ich unter dem Druck zusammenbreche, indem er mich aushungert und in der Dunkelheit angekettet lässt. Aber ich bin besser als er. Ich lasse mich nicht von ihm unterkriegen. Andererseits kann ich meinen Körper nicht an seinen Funktionen hindern. Vor einer Weile habe ich mich vollgepisst. Was blieb mir anderes übrig? Entweder das, oder ich hätte Mallon rufen müssen. Jetzt bin ich mit übelriechendem Urin durchnässt. Anfangs war es warm, aber jetzt friere ich an den nackten Beinen und stinke. Das hat der
Dreckskerl aus mir gemacht, doch ich lasse nicht zu, dass er gewinnt.
Mein Körper schmerzt. Meine Beine und Arme sind taub. Ich hätte nie gedacht, dass es so schmerzhaft sein kann, längere Zeit still dazuliegen. Könnte ich doch nur aufstehen und ein wenig herumlaufen. Und, verdammt, ich habe solchen Hunger. Mein leerer Magen krampft sich so fest zusammen, dass es mir vorkommt, als würde er sein Inneres nach außen kehren. Keine Ahnung, was ich mache, wenn ich scheißen muss. Darüber will ich nicht mal nachdenken, bis es so weit ist. Ich muss versuchen, mich abzulenken, doch das ist unmöglich, wenn man nichts sehen oder hören, sich nicht bewegen kann und keine Ahnung hat, wie lange man schon hier ist …
Stopp.
Zusammenreißen.
Das will er. Er versucht mich zu bezwingen. Aber das klappt nicht. Ich lasse nicht zu, dass es klappt.
Meine Beine jucken wieder. Schlimmer als vorher.
Helikopter. Weit entfernt …
Wie lange noch, bis ich in der Dunkelheit verrückt werde? Ein Kumpel in der Schule hat – vor langer, langer Zeit – einmal gesagt, dass es nur Stunden sind, wenn überhaupt kein Licht herrscht. Es ist sinnlos, über die Zeit nachzudenken, da ich keine Ahnung habe, wie lange ich schon hier bin. Ein Teil von mir wünscht sich, Joseph Mallon würde wiederkommen, nur damit die Monotonie ein Ende hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal darauf freuen würde, einen Unveränderten zu sehen, aber das Gesicht dieses bösartigen Dreckskerls zu sehen wäre immer noch besser, als hier zu liegen und gar nichts zu sehen, sondern nur zu denken.
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