Todeshunger
Hand entlangstreicht, und erstarre am ganzen Körper. Die Tür wird einen Spalt geöffnet, gerade weit
genug, dass ein schmaler Strahl trüben, gelben Lichts in den Raum fällt.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, fährt die tiefe Männerstimme mit dem afrikanischen Akzent fort. »Ich beobachte Sie schon eine ganze Weile. Ich wollte mich nur vergewissern, dass es Ihnen gut geht.«
Der Mann verstummt und beugt sich über mich. Ich sehe seinen kleinen, aber kräftigen Körper im Licht von draußen. Wartet er auf eine Antwort? Da kann er lange warten, denn ich rede mit keinem, bevor ich nicht weiß, wer und was er ist und warum ich hier bin.
Was tut er jetzt? Er geht in die Hocke; ich höre, wie er sich an etwas auf dem Boden neben dem Bett zu schaffen macht.
»Sie sollten vielleicht die Augen schließen. Ich habe eine Lampe hier.«
Ich versuche, die Augen ganz offen zu halten, kneife sie jedoch unwillkürlich zu, als ein Streichholz aufflammt und er eine helle Gaslaterne anzündet. Verbissen öffne ich sie wieder, obwohl es wehtut, da ich nach gefühlten Stunden in der Dunkelheit unbedingt meine gesamte Umgebung wahrnehmen möchte. Das gleißende Licht blendet mich, ich sehe nur den weiß glühenden Lampenschirm. Nach der Stille kommt mir das Zischen der Gasdüse unvorstellbar laut vor.
Das stechende Gleißen des Lichts lässt nach, als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnen. Der Mann stellt die Lampe auf einen Stuhl neben dem Bett. Als er sich umdreht, sehe ich zum ersten Mal deutlich sein Gesicht. Der Dreckskerl ist ein Unveränderter. Ich kann meine Reaktion nicht unterdrücken. Ich versuche, mich aufzurichten, doch die Ketten halten mich fest. Ich krümme
den Rücken und will mich losreißen, bin jedoch kaum zu einer Bewegung fähig. Er schlurft in die Ecke des Zimmers zurück, wagt sich in seiner Angst nicht näher. Muss ihn töten. Muss ihn loswerden, aber ich kann nicht. Verliere die Beherrschung. Kann nur ausspucken. Die Spucke klatscht gegen die Wand und tropft herunter. Mund zu trocken für mehr …
»Fertig?«, fragt er. Dreckskerl. Ich entspanne die schmerzenden Muskeln, spüre stechende, quälende Schmerzen in Schultern, Handgelenken, Beinen und Hals. Zum ersten Mal bin ich einem Unveränderten so nahe, ohne ihn zu töten. Meine Eingeweide verkrampfen sich. Kann nicht klar denken. Kann mich nicht bewegen. Kann nichts machen. Muss ihn töten, aber es ist körperlich unmöglich. Dreckskerl. Nicht einmal zum Spucken habe ich mehr die Kraft.
Der dunkelhäutige Unveränderte nimmt die Lampe von dem Stuhl, stellt sie auf den Boden und nimmt Platz. Ich kann leicht den Kopf drehen und sehe ihn an. Den Wichser nicht aus den Augen lassen. Ohne diese Ketten würde ich ihn im Handumdrehen töten. Eins siebzig, eins fünfundsiebzig höchstens, und übergewichtig – so rund, wie er groß ist. Das Weiß seiner Augen ist hell und klar. Ich male mir aus, wie sie ihm aus den Höhlen quellen, wenn ich diese Ketten um seinen Hals lege und straffziehe …
»Sachte, sachte«, sagt er. »Beruhigen Sie sich.«
Er ist unbewaffnet. Er sitzt lässig auf dem Stuhl und grinst mich mit einem Blick in den dunklen, aufgerissenen Augen an, der finster und böse ist. Er hat die Beine gespreizt, die Arme liegen darauf, Handflächen nach oben. Körpersprache wie aus dem Bilderbuch. Hält der mich für dumm? Der Wichser gibt sich größte Mühe, damit
er offen und versöhnlich wirkt, aber das kaufe ich ihm nicht ab. Im Inneren ist er ängstlich, entsetzt, denn er weiß, was ich mit ihm anstelle, wenn ich mich befreien kann. Ertrage es nicht, ihm so nahe zu sein, dieselbe Luft zu atmen …
»Ich wette, Sie haben einige Fragen auf dem Herzen«, sagt er. Da hat er recht. Ich habe Hunderte Fragen parat. Er weiß, dass ich keine stellen werde, wartet aber dennoch darauf, dass ich etwas sage. Ich wünschte, er wäre nahe genug, dass ich ihn töten kann. Hätte ich nur eine Hand frei, würde ich ihm diese Kette um den Hals schlingen und ihn erdrosseln, ehe er weiß, wie ihm geschieht. Wenn ich könnte, würde ich seinen Kopf gegen die Wand schmettern, ihn mit der Lampe verbrennen, das Glas zerschlagen und ihm ins Gesicht drücken oder …
»Mein Name ist Joseph Mallon«, sagt er, und dabei klingt seine Stimme gefasst, ruhig und bedächtig. »Ich werde mit Ihnen arbeiten, solange Sie hier sind.«
Mit mir arbeiten? Was zum Teufel faselt der da?
»Sie können froh sein, dass Sie dem Krankenhaus entkommen sind«, fährt er fort.
Weitere Kostenlose Bücher