Todeshunger
ein Stuhl. An den Wänden hängt nichts, abgesehen von einem schiefen Kruzifix neben der soliden Holztür. Ich strecke den Hals so weit ich kann. Hinter mir erkenne ich ein kleines, vernageltes Fenster mit einem schwachen Lichtstrahl an den Rändern.
Wie lange bin ich hier? Bin ich gleich wieder aufgewacht, oder war ich tagelang weg? Ich spüre Panik, sage mir, dass ich mich beruhigen muss, atme langsam und rekapituliere, woran ich mich erinnern kann: die Kinder
in der Schule, die Exkursion mit Paul, der Kampf beim Krankenhaus, die Unveränderten auf der Straße, die mich gejagt und mir eine Droge eingeflößt haben … Wir sind in eine Falle gelaufen, und die Dreckskerle, die sie aufgestellt haben, müssen mich hierhergebracht haben. Ich zerre an den Ketten, kann mich aber immer noch nicht bewegen. Ich verstehe das nicht. Es ergibt keinen Sinn. Wenn sie wirklich Unveränderte waren, warum haben sie mich dann nicht einfach getötet? Warum haben sie mich hierhergebracht, wo immer das sein mag?
Jemand schreit. Ich kann nicht feststellen, woher das Geräusch kommt. Keine Ahnung, ob die um Hilfe oder vor Schmerzen schreien. Ist dies eine Folterkammer? Ein Ort, wo uns kranke, perverse Unveränderte anketten und leiden lassen? Die Dreckskerle könnten jeden Moment reinkommen und sich über mich hermachen, und ich könnte nichts dagegen tun. Ob sie experimentieren? Herauszufinden versuchen, was uns besser und schneller macht als sie, indem sie uns aufschneiden? Wie viele andere, bis sie zu mir kommen? Bin ich gar schon der Nächste?
Konzentration.
Ruhe.
Zusammenreißen.
Ich denke ans Töten, damit ich stark bleibe. Ich denke an die vielen Unveränderten, die ich im Laufe des Monats massakriert habe, und wie jeder Einzelne gestorben ist. Ich erinnere mich an all die sinnlosen Leben, denen ich ein Ende bereitet habe, und wie leicht es war und wieder sein wird.
Ellis.
Einen Moment lang denke ich aus heiterem Himmel
an Ellis, und alles bricht zusammen. Die Ketten fühlen sich enger an, die Dunkelheit undurchdringlicher, und ich kann keinen verdammten Muskel bewegen. Ich habe sie im Stich gelassen. Sie ist irgendwo da draußen, auf sich allein gestellt, während die mich hier eingesperrt haben wie ein Tier. Mit jeder Minute, die sie allein da draußen verbringen muss, wächst die Gefahr, dass sie wie eines der Kinder in der Schule endet. Ich versuche erneut, mich zu bewegen, ziehe so fest ich kann und denke einen Moment, dass ich die Ketten sprengen und hier rauskann, aber es tut sich nichts, und die Fesseln werden nur noch enger. Ich fühle mich wieder wie in der Schlange vor dem Vernichtungslager, wo ich auf den Tod warte. Nur kann ich hier rein gar nichts dagegen machen.
Meine Arme tun weh. Sie fühlen sich schwer und taub an. Brennende Schmerzen in den Schultern. Mein rechtes Bein juckt dicht oberhalb des Knies; ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mich zu kratzen. Ich versuche, es zu ignorieren, aber es hört nicht auf. Jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken, und je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer wird es. Es ist, als würde mir jemand mit der Spitze einer Nadel über die Haut streichen, und das macht mich wahnsinnig.
Okay.
Zusammenreißen.
Auf den Schmerz konzentrieren und alles andere ausblenden.
18
H abe ich geschlafen? Ich kann das Fenster nicht sehen, wenn ich den Kopf in den Nacken lege und hinter mich blicke. Ist es draußen dunkel? War das überhaupt ein Fenster nach draußen? Bin ich noch im selben Zimmer, oder haben die mich im Schlaf verlegt? Vielleicht bin ich die ganze Zeit wach gewesen. Ich könnte seit Stunden hier liegen. Vielleicht länger. Womöglich bin ich schon seit Tagen hier.
Alles ist still. Nur ein leises Tröpfeln in der Ecke des Zimmers. Hört sich wie ein leckes Rohr an. Stetig. Konstant. Ich zähle zwischen jedem Tröpfeln bis acht.
Trockene Kehle. Brauche Wasser. Möchte rufen, kann aber nicht. Weiß nicht, wer es hört. Lasse mich nicht dazu herab, mit Unveränderten zu reden, selbst wenn …
»Wie fühlen Sie sich?«
Die Stimme aus der Dunkelheit macht mir eine Scheißangst. Ich kann nur die Augen bewegen und sehe nichts, wohin ich mich auch wende. Habe ich mir das eingebildet? Mein Herz hämmert in der Brust, als wäre ich zehn Meilen gerannt. Ich versuche, mich zu bewegen, bin aber immer noch festgeschnallt. Jemand steht neben mir. Ich höre seine Schritte und seinen Atem. Sehen kann ich ihn nicht, weiß aber, er ist nahe. Ich spüre, wie er an meiner
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