Todeskampf - Robotham, M: Todeskampf - The Night Ferry
wie ich weiß, dass ich laufen kann, passiert alles in der Luft, der reinen Luft, über dem Boden schwebend, so wie große Läufer sich selbst in ihren Träumen sehen.
Die Ärzte sagten, dass ich vielleicht nie wieder gehen könnte. Ich habe die Vorhersagen widerlegt. Der Gedanke gefällt mir. Ich mache nicht gern etwas Vorhersagbares. Ich will nicht tun, was die Leute erwarten.
Ich begann wie ein Kleinkind. Kriech, bis du gehen kannst, sagte Simon, mein Physiotherapeut. Geh, bis du rennen kannst. Wir beide lieferten uns ein permanentes Scharmützel. Er schmeichelte mir, und ich beschimpfte ihn. Er verbog meinen Körper, und ich drohte, ihm den Arm zu brechen. Er nannte mich höhnisch Heulsuse, und ich beschimpfte ihn als Menschenschinder.
»Stell dich auf deine Zehen.«
»Ich versuche es.«
»Halt dich an meinem Arm fest. Mach die Augen zu. Spürst du die Dehnung in der Wade?«
»Ich spüre sie in meinen Augenhöhlen.«
Nach Monaten im Streckverband und weiterer Zeit im Rollstuhl hatte ich Probleme zu unterscheiden, wo meine Beine aufhörten und der Boden begann. Ich rannte gegen Mauern und stolperte über Bürgersteige. Jede Treppe war ein zweiter Mount Everest, mein Wohnzimmer der reinste Hindernisparcours.
Ich stellte mir kleine Herausforderungen und zwang mich, jeden Morgen aus dem Haus zu gehen. Aus fünf Minuten wurden zehn und dann zwanzig Minuten. Nach jeder Operation war es
das Gleiche. Ich trieb mich durch Winter, Frühling und einen langen heißen Sommer, in dem die Luft stickig von Abgasen war und jeder Stein und jede Bodenplatte Hitze ausstrahlten.
Ich habe jeden Winkel des East End erkundet, und es ist wie eine riesige, ohrenbetäubende Fabrik aus einer Million beweglichen Teilen. Ich habe schon in anderen Gegenden von London gewohnt, ohne auch nur Blickkontakt mit einem Nachbarn zu bekommen. Jetzt habe ich immerhin Mr. Mordecai von nebenan, der den Rasen in meinem briefmarkengroßen Vorgarten mäht; und Mrs. Goldie von gegenüber, die meine Sachen für die Reinigung abholt.
Das Leben im East End hat eine schrille, zänkische Dringlichkeit. Jeder ist auf irgendeinen Vorteil aus – alle schachern, nörgeln, gestikulieren und schlagen sich an die Stirn. »Menschen des Abgrunds« hat Jack London sie genannt. Das war vor einem Jahrhundert. Vieles hat sich verändert. Der Rest ist geblieben, wie er war.
Fast eine Stunde lang laufe ich die Themse entlang, vorbei an Westminster, Vauxhall und der alten Battersea Power Station. Ich erkenne die Gegend – ich bin in den Nebenstraßen von Fulham. Ganz in der Nähe in der Rainville Road wohnt mein alter Chef, Vincent Ruiz, Detective Inspector im Ruhestand. Wir telefonieren gelegentlich. Er fragt mich jedes Mal dieselben beiden Fragen: Geht es Ihnen gut, brauchen Sie irgendwas? Ich antworte jedes Mal: Ja, mir geht es gut, und nein, ich brauche nichts.
Ich erkenne ihn schon aus der Entfernung. Er sitzt auf einem Klappstuhl am Fluss, eine Angelrute in der Hand und ein Buch im Schoß.
»Was machen Sie, Sir?«
»Ich angle.«
»Sie können doch kaum erwarten, hier etwas zu fangen.«
»Nein.«
»Warum machen Sie sich dann die Mühe?«
Er seufzt und schlägt seinen »Ach-Grashüpfer-du-musst-noch-viel-lernen«-Tonfall an.
»Beim Angeln geht es nicht immer darum, Fische zu fangen, Ali. Es geht nicht einmal um die Erwartung, Fische zu fangen. Es geht um Ausdauer, Geduld und vor allem …« Er hebt eine Dose Export hoch. »Ums Biertrinken.«
Er hat seit seiner Pensionierung zugelegt – zu viel Gebäck zum Kaffee und dem Kreuzworträtsel der Times – und sich die Haare länger wachsen lassen. Der Gedanke, dass er kein Detective mehr ist, sondern nur noch ein gewöhnlicher Bürger, kommt mir seltsam vor.
Er holt die Schnur ein und klappt seinen Stuhl zusammen.
»Sie sehen aus, als wären Sie gerade einen Marathon gelaufen. «
»Nicht ganz so weit.«
Ich helfe ihm, seine Ausrüstung über die Straße in ein großes Reihenhaus mit befleckten Glasfenstern über leeren Blumenkästen zu tragen. Er setzt Wasser auf und räumt ein paar betippte Blätter vom Küchentisch.
»Und was haben Sie so getrieben, Sir?«
»Ich wünschte, Sie würden mich nicht immer Sir nennen.«
»Wie soll ich Sie denn nennen?«
»Vincent.«
»Wie wär’s mit DI?«
»Ich bin aber kein Detective Inspector mehr.«
»Dann eben als eine Art Spitzname.«
Er zuckt die Achseln. »Sie frieren. Ich hole Ihnen einen Pullover. «
Ich höre ihn im Obergeschoss herumkramen, und er
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