Todeskind: Thriller (German Edition)
werden ihre Interessen kollidieren. Und wenn ich richtig Glück habe, kann ich zusehen, wie es zum Showdown kommt.
Normalerweise wäre er einfach in dem kleinen Appartement geblieben, das er gemietet hatte, um nicht ständig zurückfahren zu müssen. Er hatte es in den vergangenen Monaten einige Male genutzt – vor allem noch zu der Zeit, in der er Beckett Honig um den Bart geschmiert und ihn zu überzeugen versucht hatte, dass er und Mitchs Großvater im Vietnamkrieg die besten Freunde gewesen waren.
Aber heute Nacht konnte er nicht hierbleiben. Er musste sich morgen früh mit Coles Beratungslehrerin treffen. Wehe, wenn der Junge sich nicht langsam zusammenreißt. Wenn er noch mal vom Unterricht suspendiert wird, kriegt er von mir einen Tritt in den Hintern, wie er ihn noch nie erlebt hat.
Müde lenkte er den Transporter nach Hause.
Baltimore, Maryland
Mittwoch, 4. Dezember, 6.30 Uhr
»Das ist wirklich ein großer Baum«, sagte Maggie. »Meine Güte.«
Daphne musterte die Douglasie über den Rand der Kaffeetasse hinweg. »Mama braucht den im Moment.«
»Ich weiß, aber dennoch. Wie sollen wir denn den Stern oben draufstecken?«
»Ford kann das machen, wenn er nach Hause kommt.« Daphne hob das Kinn. »Denn er wird kommen.« Daran muss ich glauben. Zweiter Tag. Der Tag, an dem er nach Hause kommt.
Wie viele Eltern vermisster Kinder dachten wohl dasselbe? Tag für Tag? Wie können sie das ertragen? Sie glaubte zu ersticken, dabei hatte sie erst einen Tag überstehen müssen. Einen langen, abscheulichen Tag. Bis auf die Augenblicke, in denen Joseph mich im Arm gehalten hat. Diese Momente … haben mich gerettet.
»Hast du denn überhaupt geschlafen?«, fragte Maggie ruhig.
»Vielleicht eine Stunde.« Sie klopfte neben sich aufs Sofa. »Komm, setz dich. Du warst doch auch einen großen Teil der Nacht auf.«
»Immer mal wieder. Deine Mutter hat Alpträume gehabt.«
»Ich weiß. Ich bin ein paarmal bei ihr gewesen, um sie zu beruhigen.«
»Und wer beruhigt dich, Daphne?«
»Joseph kriegt das ganz gut hin.«
Maggies Brauen wanderten aufwärts. »Er hat dich also beruhigt, da im Wintergarten?«
Daphnes Gesicht wurde heiß. »Maggie. Bist du unter die Voyeure gegangen?«
»Nein. Aber man braucht keine Polizeimarke, um zu wissen, was gerötete Wangen, geschwollene Lippen und ein wogender Busen bedeuten … na ja, jedenfalls nicht, dass jemand sich beruhigt.«
»Mein Busen hat nicht gewogt. Nicht sehr. Okay, er hat. Und ich weiß, dass jetzt nicht die geeignete Zeit ist für solche … Intermezzi.« Sie seufzte. »Aber einen Augenblick lang habe ich nicht mehr daran gedacht, Angst zu haben.« Sie hatte gar nicht mehr gedacht. Punkt.
Maggie legte einen Arm um Daphnes Schultern. »Dann war es die beste Zeit für ein solches Intermezzo. Du solltest mehr Intermezzi haben. Du bist seit viel zu langer Zeit intermezzolos.«
»Ich bin noch nie etwas anderes als intermezzolos gewesen«, verbesserte sie düster.
»Dann hast du einiges aufzuholen. Und das Exemplar, das du dir dafür ausgesucht hast, scheint mir ideal zum Aufholen. Da würde mir auch der Busen wogen, wenn da nicht die Schwerkraft wäre.«
Daphne grinste. »Du bist verdorben, Maggie.«
»Und du solltest dir öfter mal gestatten, es zu sein. Ab und an und immer wieder.«
Daphne legte ihren Kopf an Maggies Schulter. »Ich weiß nicht mehr, wie das geht.«
»Ach, Joseph wird deine Erinnerung schon auf Trab bringen.«
Plötzlich wurde es Daphne eng in der Brust. »Ja, wahrscheinlich könnte er das.«
»Das soll eigentlich etwas Gutes sein, Kleine.«
»Ich weiß. Und das ist es auch.«
»Aber?« Sie nahm den Arm zurück, um leicht an Daphnes Perücke zu zupfen.
»Das zum Beispiel. Und der wogende Busen, der schwerkraftresistent ist.«
»Weiß er das?«
»Nur in Auszügen. Maggie, ich fürchte mich so.« Das Eingeständnis öffnete die Schleusen all ihrer Ängste, die in einer Woge über ihr zusammenschlugen. »Ich dachte, ich wüsste, was Angst ist. Entführt zu werden, zu wissen, was mit Kelly geschah, die Panik, dass er auch mich holen würde. Das war … nicht in Worte zu fassen. Dann dachte ich, der Moment, in dem der Arzt das Wort ›Krebs‹ aussprach, sei der schlimmste meines Lebens gewesen. Aber das hier … das hier ist noch schlimmer. Jede Minute ist noch schlimmer. Ich würde zu dem Tag meiner Diagnose zurückkehren, wenn Ford dafür niemals entführt werden würde. Im Moment habe ich sogar Angst zu atmen.«
»Ich weiß.
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