Todeskind: Thriller (German Edition)
Ein, zwei Wochen Isolation wirken sich manchmal seltsam auf den Verstand aus.«
»Vom Trauma mal ganz abgesehen«, murmelte Agent Kerr. »Wer hat Sie entdeckt?«
»Eine nette Dame. Ich weiß nicht einmal, wie sie hieß. Sie rief die Polizei, die mir erklärte, dass ich in Dayton war. Man fragte mich, was geschehen sei, aber ich konnte nur Becketts Stimme in meinem Kopf hören, die mir drohte, meine Mutter zu töten. Ich hatte zu große Angst, um zu reden. Damals gab es noch keinen Amber Alert, daher brauchte man eine Weile, bis man herausgefunden hatte, wohin ich gehörte. Schließlich aber brachte die Polizei mich nach Hause.«
»Was ist ein Amber Alert, Mom?«, erkundigte sich Ford.
»Das ist ein Alarmsystem, mit dem in Sekundenschnelle die Bevölkerung über das Verschwinden von Kindern informiert wird, zum Beispiel über Anzeigetafeln auf Bahnhöfen, Flughäfen oder Autobahnen, aber auch in Supermärkten, via Handy oder soziale Netzwerke. Schon viele Kinder konnten damit wiedergefunden werden, bevor Schlimmeres passierte.« Sie presste sich die Hand auf den Bauch und wappnete sich. Nun kam die Erinnerung, gegen die sie sich am meisten sträubte. »Meine Eltern warteten mit Tante Vivien im Wohnzimmer, als der Sheriff mich nach Hause brachte. Und im Türrahmen zur Küche stand Beckett.«
Baltimore, Maryland
Mittwoch, 4. Dezember, 21.30 Uhr
»Ich glaub dir kein Wort«, flüsterte Cole, aber Kim reagierte nicht. Sie hatte ihm einen Haufen Lügen aufgetischt und wieder das Bewusstsein verloren. Aber vielleicht tat sie auch nur so.
Nein, er glaubte ihr kein einziges Wort. Das konnte er nicht.
Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass ein Teil von dem, was sie ihm erzählt hatte, der Wahrheit entsprechen musste. Er konnte nur beten, dass nicht alles stimmte. Sie behauptete, dass Mitch andere Leute umgebracht hatte. Dass es ihm Spaß machte. Und dass er es offenbar verdammt gut konnte. Leute umbringen.
Sie hatte erzählt, sie hätte »Doug« im September vergangenen Jahres kennengelernt. Das war der Zeitpunkt gewesen, als Mitch und er von Florida gekommen und wieder hier eingezogen waren. Mitch war ungenießbar gewesen. Zwar hatte er behauptet, ein Jobwechsel hätte den Umzug nötig gemacht, tatsächlich jedoch war er auf der Flucht gewesen, wie Cole genau wusste. Aber eine Woche nach ihrer Rückkehr in dieses Haus war etwas mit Mitch passiert. Als Cole von der Schule nach Hause gekommen war, hatte Mitch leichenblass am Tisch gesessen. Er hatte ein altes Buch gelesen, das er hastig versteckte, als Cole hereinkam, um einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen.
Das Buch und Mitch waren in der Garage verschwunden. Wahrscheinlich ist er direkt in den Bunker gestiegen, dachte Cole. Mitch ging ab und zu dort runter, um ihrer Mutter zu gedenken.
Cole musste nicht dorthin gehen. Die Erinnerung an diese Räumlichkeiten hatte sich in sein Gehirn gebrannt. Ich hasse dieses Haus.
Am Tag, nachdem Cole Mitch mit dem Buch erwischt hatte, war sein Bruder ein anderer Mann gewesen. Gelassen, gut gelaunt. Er hatte sogar vor sich hin gepfiffen. Er hatte die HLK-Lizenz – Heizung, Lüftung, Klimaanlage – beantragt, um als Heizungsfachmann arbeiten zu dürfen, sich die nötige Ausrüstung besorgt und sich selbständig gemacht. War solide geworden. So hatte Cole es jedenfalls glauben wollen.
Bis er sich eines Tages Mitchs Lizenz angesehen hatte. Der Name darauf war weder Mitchs noch einer, der Mitchs ähnelte. Vermutlich hätte sein Bruder mit der Vorstrafe die Lizenz nicht bekommen, also hatte er sich eine falsche Identität gekauft. Und allein dafür konnte man ihn wieder einlochen, falls man ihn erwischte.
Ich hab es so satt, Angst haben zu müssen. Vor den Cops, vor der Schule, den anderen Schülern. Vor meiner eigenen Familie.
»Warum bin ich bloß nicht adoptiert worden?«, brummte er.
»Muss keine Verbesserung sein«, krächzte Kim. »Haben wir Wasser hier unten?«
»Ja.« Er brachte ihr eine Flasche und hielt sie ihr an die rissigen Lippen. Sie trank gierig. »Langsam.« Er nahm die Flasche weg und schraubte den Deckel darauf. »Sonst wird dir schlecht.«
»Danke. Ich hatte so einen Riesendurst. Kannst du mich losbinden?«
Er zögerte. Und schüttelte dann den Kopf. »Nein.« Nicht, bevor ich nicht die Wahrheit kenne.
Sie sackte auf der Pritsche in sich zusammen. »Hast du wenigstens mal über das, was ich gesagt habe, nachgedacht?«
Ja, und ich will dir immer noch nicht glauben. Ich will nicht glauben, dass
Weitere Kostenlose Bücher