Todeskind: Thriller (German Edition)
meine Mutter bekam gewaltigen Druck von ihrer Familie. Aber mein Vater stammte nicht aus der Gegend. Und Kelly hatte bei uns gewohnt. In der Rückschau glaube ich, dass er von Anfang an Angst hatte, man könne ihn verdächtigen. Aber damals war mir das nicht bewusst.
Immer wieder versuchte jemand, mich zum Reden zu bringen, aber ich zog mich immer weiter zurück. Das ging wochenlang so, auch über Weihnachten. Wo immer ich hinsah, war Beckett. Er drohte mir mit Gesten und manchmal, wenn niemand in der Nähe war, auch mit eindeutigen Worten.«
Joseph hatte die Augen geschlossen und rang sichtlich um Fassung. Ford neben ihr hatte vor Wut zu zittern begonnen, sagte aber nichts.
»Man brachte mich zu einer Therapeutin, die ebenfalls versuchte, mich zum Reden zu bringen. Irgendwann sagte sie mir, ich solle den ›bösen Mann‹ malen. Also tat ich es.«
»Du hast versucht, Beckett zu malen?«, fragte Joseph.
»Ich habe versucht, Vivien, Beckett und Kelly zu malen – aber ich war erst acht, und es ist mir nicht besonders gut gelungen.« Sie seufzte bei der Erinnerung an das Leid, das dem gefolgt war. »Alle glaubten, ich würde meine eigene Familie malen. Und meinen Vater beschuldigen.«
»O nein.«
Sie war nicht sicher, wer das gesagt hatte, denn sie hatte die Augen geschlossen, um gegen die Tränen anzukämpfen. »Ich werde nie vergessen, was mein Vater für ein Gesicht machte, als die Polizei am Abend zu uns kam. Die Therapeutin hatte ihre Meinung zu meinem Bild weitergegeben, und sie wollten ihn verhören. Er sah mich so gekränkt an – ich hatte ihn verraten! Und ich konnte nicht sprechen. Ich wollte schreien, dass es nicht mein Vater war, aber sie nahmen ihn erst einmal mit aufs Präsidium. Später kam er zurück und sah mich bloß an. Zutiefst verletzt.«
»Die Nachrichten verbreiteten sich rasant. Die Familie meiner Mutter rottete sich gegen meinen Vater zusammen – sie hatte ihm sowieso nie so recht getraut. Er war ein Musiker, den meine Mutter in Kalifornien kennengelernt hatte. Beckett dagegen war ein Prediger, der sogar im Fernsehen etwas sagen durfte und die Chance nutzte, meinen Vater noch zu verunglimpfen. Es war ein Alptraum.«
»Und was geschah weiter?«, fragte Agent Kerr.
»Meine Eltern hatten sich schon die ganze Zeit immer wieder meinetwegen gestritten. Mein Vater ließ sich nicht davon abbringen, dass man mich zum Reden bringen müsste. Meine Mutter nahm mich in Schutz. Sie war der Meinung, dass ich reden würde, wenn ich bereit dazu war. Ich erinnere mich noch genau, wie ich einmal spätabends wach wurde, weil sie sich anschrien – es war das letzte Mal, dass ich die Stimme meines Vaters hörte. Er beschuldigte Mama, die Lügen über ihn zu glauben. Sie weinte furchtbar. Wusste einfach nicht, was sie tun sollte.«
Sie schlug die Augen auf und begegnete Josephs tieftraurigem Blick. »Bei meiner Arbeit erlebe ich das öfter«, sagte sie. »Ein Kind wird missbraucht und der Vater beschuldigt – manchmal durch das Kind selbst, manchmal durch einen Familienangehörigen oder Sozialarbeiter. Irgendwann kommt der Moment, in dem die Frau eine Wahl treffen muss: Beschütze ich mein Kind um jeden Preis oder glaube ich, dass der Mann, den ich liebe, niemals eine so scheußliche Tat tun könnte? Mama befand sich in dieser Situation und stand zu ihm. Aber mein Vater hatte einen Zweifel in ihren Augen gesehen, und als er nach dem Verhör nach Hause kam, stellte er sie zur Rede. Sie versuchte, sich dafür zu entschuldigen, aber er fühlte sich derart verraten …
Jedenfalls kam er in mein Zimmer und starrte mich an. Starrte mich nur an und sagte nichts, kein einziges Wort. Ich weiß nicht, ob er darauf wartete, dass ich etwas sagte oder tat … ich weiß es einfach nicht. Er sah unendlich traurig aus, aber auch gleichzeitig so wütend. Tags drauf ging er arbeiten und danach mit seiner Band proben … und wir sahen ihn nie wieder.« Sie schluckte. »Am Morgen danach wachte ich von dem Geschrei meiner Mutter auf. Jemand hatte ein Junges von Fluffy getötet.«
»Beckett«, sagte Ford kalt, und sie streichelte ihm über die Hand.
»Ich wusste das natürlich. Mama dachte aber, jemand sei wütend auf meinen Vater gewesen. Die ganze Nachbarschaft tat sich gegen ihn zusammen, aber er war unauffindbar. Natürlich nahmen alle an, dass er schuldig sein musste und abgehauen war, um seiner Verhaftung zu entgehen. Es wurde so schlimm, dass sie sich tatsächlich eines Tages zusammenrotteten und wie im
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