Todeskleid: Thriller (German Edition)
Schreibtischschublade auf. Die Akte Muñoz lag auf dem Stapel ganz oben. Eine Zeitlang starrte er den Ordner nur an und zählte die Schläge seines Herzens. Was, wenn Paige recht hatte? Wenn die vermeintlichen Beweise, die Elena gefunden hatte, gar nicht so vermeintlich waren, sondern echt?
Wenn man Muñoz die Mordwaffe tatsächlich untergeschoben hatte?
Aber wer sollte das getan haben? Und warum? Und dann die Millionen-Dollar-Frage: Hatte ein Unschuldiger sechs Jahre lang hinter Gittern verbracht? Und wie viel habe ich dazu beigetragen, sollte das tatsächlich so sein?
Er erinnerte sich noch sehr deutlich an den Fall. Erinnerte sich vor allem an Ramon Muñoz. Erinnerte sich, wie unerschütterlich der Mann seine Unschuld beteuert hatte.
Andererseits taten das alle. Alle Mörder behaupteten, unschuldig zu sein. Grayson verachtete diese Menschen. Und hier, in der Stille seines Büros, war ihm nur allzu bewusst, warum er so dachte. Damals hatte es keine große Rolle gespielt. Jetzt dagegen tat es das sehr wohl. Und wie.
Er betrachtete sich in dem kleinen Spiegel an der Wand, den sein Vorgänger hatte hängen lassen. Grüne Augen sahen ihn an. Die Augen seiner Mutter. Nun verengten sich die grünen Augen.
Von seinem Vater hatte er die breiten Schultern, die leicht gebräunte Haut und das dunkle Haar geerbt. Mehr nicht. Zum Glück.
Seine Gesichtszüge stammten von der mütterlichen Seite der Familie, was es ihr leichtgemacht hatte, ihn als »Grayson Smith« auszugeben, als sie mit wenig mehr als den Kleidern am Leib ihrem alten Leben entflohen waren. Sie hatten den alten Namen zurückgelassen und niemandem gesagt, wer sie wirklich waren. Niemandem – nicht einmal den Carters, die sie aufgenommen und ihnen ein Dach über dem Kopf gegeben hatten. Grayson liebte die Carters, als wären sie sein eigenes Fleisch und Blut, aber er konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Sie sollten es nicht wissen. Niemand sollte es wissen.
Sein bestgehütetes Geheimnis. Seines und das seiner Mutter. Ihre Schande, ihre Scham. Seine größte Angst war es, dass eines Tages jemand dieses Geheimnis aufdecken würde.
Er war sieben gewesen, als er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte, aber er brauchte kein Foto, um sich an sein Gesicht zu erinnern. Oder an das Gesicht seines letzten Opfers.
Plötzlich musste er sich zwingen, ruhig zu atmen. Selbst jetzt noch, nach gut dreißig Jahren, setzte die Erinnerung an die junge Frau seine Eingeweide in Brand.
Sie war eine blonde Studentin gewesen. Wie Crystal Jones. Sie war hübsch gewesen. Bis mein Vater sie ermordet hat. Genau wie Ramon Muñoz Crystal ermordet hatte.
Zumindest hatte er das geglaubt. Die Beweislage war eindeutig gewesen, und niemand hatte Ramons Alibi bestätigen wollen.
Aber hätte er diesen Fall auch so eifrig verfolgt, wenn sein Vater kein Mörder gewesen wäre? Nun, das würde er niemals herausfinden. Sein Vater war ein verurteilter Mörder gewesen, und Grayson hatte die letzten drei Jahrzehnte damit verbracht, sich selbst und der ganzen Welt zu beweisen, dass er in keiner Hinsicht seines Vaters Sohn war.
Sind Sie ein aufrichtiger Mensch? Im Geist hörte er Paige diese Frage stellen. Er wollte ein aufrichtiger Mensch sein. Sein ganzes bisheriges Leben hatte er alles gegeben, um genau das zu sein. Und wenn Ramon unschuldig ist? Was machst du dann?
Dann würde er es wiedergutmachen. Irgendwie. Was immer es ihn kostete. Ich will das Richtige tun.
Paige hatte dasselbe gesagt, als er sich verzweifelt bemüht hatte, den Blutfluss ihrer Wunde zu stoppen. Sie hat sich an mich geklammert. Mir vertraut, als sie verletzlicher nicht hätte sein können. Sie hatte nichts getan, was rechtfertigte, dass man sie in diese Sache hineinzog. Sie hatte nur ihre Arbeit getan.
Genau wie du. Muñoz vor Gericht zu stellen war sein Job gewesen. Seine Pflicht.
Aber wenn der Mann nicht schuldig war, dann war es genauso seine Pflicht, ihn wieder auf freien Fuß zu setzen.
Entschlossen wandte er den Blick vom Spiegel und sah an sich herab. Paiges Blut hatte seinen Anzug beschmiert, und er griff nach dem Ersatzanzug, der am Haken hinter der Tür hing. Er hatte immer saubere Sachen im Büro für den Fall, dass er die Nacht durcharbeitete und am nächsten Morgen gleich in der Früh bei Gericht erscheinen musste. Er zog sich um, dann öffnete er die Akte Muñoz. Er brauchte nicht lange, um die Seite über die Zeugen zu finden, die er gesucht hatte.
Während der Verhandlung war Grayson
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