Todesküste
Energie.
Allerdings ohne jegliche besondere Aktivität.«
»Was machte er beruflich?«
»Wir haben schon mit seinem Arbeitgeber und den
Kollegen gesprochen. Meiners war Supervisor, früher hätten wir Gruppenleiter
gesagt, in der Verkaufsabteilung von Shell.«
»In der Raffinerie in Heide?«
Schwälm nickte. »Genau. Dort war er seit fünfzehn
Jahren beschäftigt. Er galt als zuverlässig und tüchtig. Seine vier
Untergebenen und die Vorgesetzten konnten nur Gutes über ihn berichten.«
»Das gibt es doch nicht«, dachte Lüder laut. »Irgendwo
hat jeder Mensch eine Schwachstelle.«
»Schon«, sagte Schwälm. »Wenn jemand plötzlich
verstirbt – und das auf eine solche Art und Weise –, dann hören wir aus dem
Umfeld immer nur Gutes. Aber der Mann schien wirklich unauffällig gewesen zu
sein. Es gibt weder Vorstrafen noch Punkte in Flensburg.«
»Und sein persönliches Umfeld?«
Der Hauptkommissar musterte Lüder mit einem kritischen
Blick. »Wir machen unseren Job nicht erst seit gestern. Natürlich suchen wir da
zuerst nach einem Motiv. Bisher aber vergeblich. Es gibt keine Anhaltspunkte
dafür, dass eine außereheliche Beziehung bestand. Das sind häufig Gründe für
Gewaltexzesse. Aber weder beim Toten noch bei seiner Frau haben wir in dieser
Hinsicht Anhaltspunkte gefunden. Natürlich suchen wir weiter.«
»Hm. Bleibt nur noch das Durchleuchten der Finanzen.
Gibt es da Auffälligkeiten? Hohe Kontenumsätze? Unerklärliche Geldbewegungen?
War der Mann vielleicht Spieler?«
»Da sind wir am Ball«, erwiderte Schwälm ausweichend.
»Und die Zeugenaussagen sind eher unzuverlässig. Auf dem Fest lief eine junge
Frau herum, die als Bettlerin verkleidet war. Andere Zeugen wollen diese
Gestalt wiedererkannt haben als die Person, die sich Meiners näherte, bevor er
stürzte. Sie sprachen auch von einer kunstvollen Schminke, die einem
Leprakranken ähnelt.«
»Der Rentner, den wir befragt haben, will zwar das
Kostüm der jungen Frau erkannt haben, hat darin aber einen Mann vermutet, eben
den Leprakranken, und bestritten, das Frauengesicht schon einmal gesehen zu
haben«, warf Bongers ein.
»Ungeklärt ist allerdings«, korrigierte Schwälm seinen
Kollegen, »wo sich die Frau zwischen dem Mord und dem Zeitpunkt, als wir sie
aufgegriffen haben, aufgehalten hat. Angeblich ist sie über den Markt gebummelt
und hat sich hier und dort aufgehalten. Sie hätte die Zeit natürlich auch
nutzen können, um sich die ›Lepraschminke‹ aus dem Gesicht zu wischen.«
Schwälm und Bongers bedankten sich, als Lüder die
Rechnung für die drei Männer übernahm.
»Sobald ich etwas über den mysteriösen Sandklumpen
hören sollte, melde ich mich.« Lüder verabschiedete sich und kehrte zu seinem
Auto zurück.
Das war einer der merkwürdigen Fälle, bei denen die
Polizei zunächst vor einem Rätsel steht. Bei den meisten Tötungsdelikten finden
sich im persönlichen Umfeld des Opfers Anhaltspunkte für das Motiv: Eifersucht,
Hass, Rache, Geldgier oder eine Vertuschung von sexuell motivierten Straftaten.
Das haben wir vergessen zu erörtern, fiel Lüder ein. Er drehte um und wollte
die beiden Itzehoer Beamten noch einmal darauf ansprechen, aber die Polizisten
hatten das Café bereits verlassen.
Lüder verließ Meldorf in Richtung der nahen Küste.
Wichelwisch war eines der typischen Straßendörfer. Die wenigen Häuser standen
an der einzigen Straße. Es gab keinen Dorfkrug, keine Telefonzelle und keinen
Briefkasten, von einer Kirche oder einem Geschäft ganz abgesehen. Lüder fiel
auf, dass man sich hier nicht einmal eine Straßenbeleuchtung gönnte. Die Reihe
der roten Backsteinhäuser hatte schon seit vielen Jahren keinen Neubau mehr
dazubekommen. Mit dem Mauerwerk waren auch die Dorfbewohner gealtert.
Allerdings musste Lüder anerkennen, dass die Mehrheit der Vorgärten einen zwar
rustikalen, aber gepflegten Eindruck machte. Das traf nicht auf den
heruntergekommenen Bauernhof zu, auf dem Silvio Merseburger und seine Freunde
lebten. Verrottetes Ackergerät lag neben den überquellenden Mülltonnen, der
verwilderte Vorgarten passte zum Unkraut, das die mit Kopfstein gepflasterte
Hoffläche bedeckte, und die windschiefen Türen des Nebengebäudes harmonierten
mit dem schlechten Eindruck der vor Schmutz blinden Fenster, von denen die
Farbe schon vor Jahren abgeblättert war.
Lüder hielt am Rande des Grundstücks. Als er ausstieg,
löste sich von der Hauswand ein ungepflegter Hund, der Ähnlichkeiten mit
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