Todesküste
durch die Fenster.
Lisbeth schien ihre Erklärungen abgeschlossen zu haben
und wandte sich zum Ausgang, während seine Frau ihm durch eine energisch
wirkende Handbewegung bedeutete, sich wieder zu erheben. Am liebsten hätte er
noch eine Weile still dagesessen. So erhob er sich und stützte sich mit der
Hand auf der Rückenlehne der Bank ab. Dabei bemerkte er den schmalen Raum
hinter der Holzverkleidung. Dahinter verbargen sich die die schweren
gusseisernen Heizkörper. Doch die erweckten nicht seine Aufmerksamkeit, sondern
der Mann, der auf den Rippen der Heizung lag und schlief.
»Na so was«, murmelte Brammeier zu sich selbst. Der
ist lustig. Vielleicht hat er auch ‘ne Frau, die ihn unablässig besabbelt. Hier
hat er wenigstens ein ruhiges Plätzchen gefunden.
Er wollte sich abwenden, bis ihm auffiel, dass dort
ein dunkelhäutiger Mensch lag. Jetzt legen die ihre Heiligen Drei Könige schon
auf der Heizung ab, dachte Brammeier. War Caspar der Dunkelhäutige? Oder doch
Balthasar? Ich dachte, die wären im Kölner Dom beigesetzt. Komisch. Er sah sich
den schlafenden Mann genauer an. Das markante Gesicht mit der wulstigen Nase,
die kurzen schwarzen Haare, die geschlossenen Augen, der stämmige Hals … Der
Mann trug ein beigefarbenes Sweatshirt und hatte die Hände wie zum Gebet vor
dem Bauch gefaltet. Unter den Fingern war ein Rinnsal von getrocknetem Blut
ausgetreten und hatte rund um die Hände auf der Oberbekleidung einen großen
dunkelroten, fast schwarzen Fleck gebildet. Mit einer wedelnden Handbewegung
verscheuchte Brammeier zwei Fliegen, die sich dort niedergelassen hatten. Dann
eilte er seiner Frau und der Schwägerin hinterher.
»Gibt mir mal schnell das Handy«, sagte er.
Jutta Brammeier sah ihn überrascht an. »Wieso das?«
»Rede nicht so viel. Mach schon.« Er wählte die 110.
»Polizei«, meldete sich eine sonore Männerstimme.
»Welche Polizei?«, fragte Brammeier. »Ich bin hier in
Husum. Bin ich da bei Ihnen richtig?«
»Ja.«
»Also, hier … In der Kirche. Da beim Marktplatz. Da
liegt ein Toter.«
*
Rund um die Tine, den Marktbrunnen und das Portal der
Marienkirche hatten sich zahlreiche Schaulustige eingefunden. Inzwischen
kursierte das Gerücht, dass man in der Kirche eine Leiche gefunden hatte.
Oberkommissar Große Jäger stand in der Eingangstür zum
Gotteshaus und sah Dr. Hinrichsen an. Der Allgemeinmediziner, der in diesem
Jahr das halbe Jahrhundert an Lebensjahren vollendet hatte, betrieb eine Praxis
in der Stadt. Er war schon seit Langem als Polizeiarzt tätig und unterstützte
die Ermittler vor Ort bei ungeklärten Todesfällen, da die Rechtsmedizin des
Landes in den fernen Städten Kiel und Lübeck konzentriert war.
»Das ist eine Schussverletzung«, sagte der Arzt, als
ihn Große Jäger fragend ansah. »Ich schätze, der Mann ist zwei Stunden tot.«
»Was für eine Art von Schussverletzung?«, wollte der Oberkommissar
wissen.
Der Mediziner schenkte ihm einen fast mitleidigen
Blick. »Ich bin Arzt, kein Schusswaffenexperte. Und wenn Sie jetzt auch noch
wissen möchten, woran das Opfer genau gestorben ist, kann ich Ihnen nicht
weiterhelfen. Alles Weitere wird Ihnen Herr Jürgensen erklären.« Mit einem
kurzen Nicken verabschiedete sich Dr. Hinrichsen, nahm seine Arzttasche auf und
verschwand in Richtung des Torbogens neben dem alten Rathaus, der zum
Schlossgang führte, wo sich die Praxis des Mediziners befand.
Ein kleiner, fast glatzköpfiger Mann in einem weißen
Schutzanzug tauchte aus der Kirche auf. Er räusperte sich, bevor er Große Jäger
fragte: »Was hat der Doc gesagt?«
»Nix. Wie immer. Ich habe den Eindruck, die heutigen
Ärzte können dir nur noch die Frage nach dem Krankenschein stellen und den
Rechnungsendbetrag nennen. Hast du wenigstens etwas Interessantes?«
Hauptkommissar Klaus Jürgensen, der Leiter der
Spurensicherung von der Bezirkskriminalinspektion aus Flensburg, drehte den
Kopf zur Seite, hob den Unterarm vor den Mund und nieste.
»Immer wenn ich in diese kulturelle Diaspora muss,
bekommt es meiner Gesundheit schlecht.«
»Was heißt hier Diaspora?«, ereiferte sich Große
Jäger. »Husum ist das Zentrum des Wohlergehens. Im Unterschied dazu verbindet
sich bei den Leuten mit dem Begriff Flensburg nur das Grausen, wenn die an die
Punkte denken, die sie dort unfreiwillig eingelagert haben.«
»Du vergisst die schönen Seiten Flensburgs: den Rum
und Beate Uhse. Aber – sag mal. Wo ist eigentlich dein Chef? Den habe ich noch
gar nicht
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